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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Pehnt
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nichts.
    Auf dem Läufer wachte ich auf, hatte mir zum Glück den Kopf nicht
gestoßen, die anderen Gäste auf den Stühlen halb zu mir gedreht. Der Kellner
nervös neben euch, ob er etwas bringen solle, ob ich aufstehen könne,
vielleicht mal an die frische Luft. Die Stimme der Oma schickte ihn Wasser
holen und rief mir grelle Ermutigungen zu, ich schloss die Augen wieder und
sank in den Läufer und spürte endlich die Hand auf der Stirn, die ich brauchte,
deine kühle Hand.
    Du ließest sie einfach dort liegen, bis mir das Blut wieder in den
Kopf und hinter die Stirn stieg und ich den Kopf hob und mich langsam
aufrichtete und verlegen durch das Lokal lächelte, und du nicktest mir beruhigend
zu.
    â€“ Schon gut, es ist gut.
    Tanzkurs ist gut. Tanzkurs, das sind viele Jungs und
Mädchen und eine wilde tolle Musik, und Annie stellt sich sehr geschickt an mit
den Tanzschritten, Rock’n’Roll, alles wie frisch gewaschen: die Petticoats mit
Tupfen, die Jungs frisch frisiert. Annie hat einen kirschroten Lippenstift in
der Kosmetikabteilung geklaut und steht mit verwegenem Mund und spöttisch
gehobenen Augenbrauen in einer Reihe mit den anderen Mädchen. Herrenwahl, und
sie weiß schon, wohin die Jungs gleich stürzen werden, es macht sie heiß und
triumphierend, aber sie verbirgt es vor den anderen und stöhnt zum Trost
gelangweilt, wenn das Rudel auf sie losstürmt, und nicht den Schnellsten nimmt
sie, sondern den Hübschesten, für die anderen sind sowieso noch genug Jungs
übrig. Der, den sie am häufigsten nimmt, ist nicht der aus dem Park, der hatte
nicht genug Geld für den Kurs und konnte nicht mitkommen, sondern einer mit
einer wippenden Haartolle und heißen Händen, sie glühen richtig, wenn er sie
anfasst und herumzieht und zwischen den Beinen hindurch und am Ende hoch in die
Luft und hoch hinaus, er kauft ihr eine Limo am Tresen der Tanzschule, woher er
das Geld hat, weiß sie nicht, vielleicht gibt er auch Nachhilfe, und dann
bringt er sie nach Hause. Manchmal ist Mutter nicht da, sie kocht jetzt in
einer Schule, und wenn dort Feste oder Veranstaltungen für die Eltern sind,
muss sie abends hin und Häppchen schmieren und süßen Wein ausschenken, das
macht sie gern, jedenfalls pfeift sie vor sich hin und malt sich die Lippen mit
Annies neuem Lippenstift, den sie gleich in Beschlag genommen hat, und von dem
zuckenden Schwesterchen ist nicht mehr die Rede.
    Â»Hast du den gekauft. Nichts dagegen, wenn ich ihn mal nehme, ich
kaufe dir dann einen neuen.«
    Der Lippenstift ist schon zur Hälfte heruntergemalt, und nicht von
Annie, die glühend rote Lippen hat, auf die sie nur ein paarmal zu beißen
braucht, schon leuchten sie in ihrem Gesicht wie Marmelade. Mutter braucht mehr
Farbe, Annie hat sie auch dabei erwischt, dass sie kleine Krumen vom
Lippenstift herunterkratzt und sich auf den Wangenknochen verreibt, dann sieht
sie aus, als wäre sie durch den Wind gelaufen, rosig und etwas außer Atem. Kein
Wunder, dass der Lippenstift dahinschmilzt.
    Â»Wir zwei Mädels«, sagt Mutter und zwinkert Annie zu, »wir müssen
etwas aus uns machen.«
    Â»Ich denke, du gehst arbeiten.«
    Â»Ja, soll ich zur Arbeit gehen wie eine graue Ente. Du musst zeigen,
was du hast. Und soll ich dir noch etwas verraten.«
    Annie hat sich den blauen Mantel übergeworfen, ihre Haare sind schon
so lang, dass sie auf die Schultern fallen und sich flott nach oben biegen, sie
ist halb durch die Tür, weil gleich die Tanzstunde anfängt.
    Â»Ja, was denn.«
    Â»Wenn du geraucht hast, jetzt sag nicht, du rauchst nicht, ich habe
es doch gesehen, und willst einen Jungen küssen, dann schieb dir ein Blatt
Salbei zwischen die Zähne, kräftig kauen, dann schmeckst du besser.«
    Annie schüttelt die Haare, bis sie wolkig um ihren Kopf tuffen, sie
will die schwülen Geheimnisse der Mutter nicht hören, will sich nicht
vorstellen, wie Mutter mit einem Salbeiblatt im Mund einen Jungen umarmt hat,
sie hat ja so früh geheiratet, da wird sie wohl kaum viel zum Küssen gekommen
sein. So will Annie es nicht machen.
    Und darum geht sie jetzt rasch zur Tanzstunde und lässt Mutter vor
dem Spiegel zurück, und warum man fürs Häppchenschmieren so rote Wangen
braucht, darüber denkt sie lieber nicht nach.
    Als sie nach Hause kommt, rosig geküsst von ihrem Tanzjungen und
etwas verschwitzt von den akrobatischen

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