Chronik der Nähe
Rechnung
kommt, reicht das Geld nicht mehr, und Annie sucht in den Taschen nach dem
letzten Geld von der Nachhilfe und lädt Mutter ein.
»Das nächste Mal bin ich dann dran«, sagt Mutter.
Als das zweite Kind kam, warst du verreist. Natürlich mit
Papa. Nicht, dass ich es dir übel genommen hätte. Das Kind war vier Wochen zu
früh, wieso solltest du einen Monat vor meiner Geburt zu Hause sitzen, ihr wart
eben verreist, immer noch gern unterwegs, ihr beiden, Andalusien oder Bretagne
oder beides, und als ich mit dem neuen Baby auf dem Sofa saà und mir vom Kind
die Bilder zeigen lieÃ, die es für uns gemalt hatte, und der Richtige in der
Küche richtigen Kaffee aufsetzte und alles sehr friedlich war, das kleine neue
Gesicht an meiner Schulter versunken, wollte ich dich sofort herbeizaubern,
aber rauchen dürftest du nun wirklich nicht, auch nicht in der Küche. Du kamst
ja dann, eben zurück aus Andalusien oder der Bretagne, schon warst du da, wider
Erwarten. Gleich in den Sessel mit dem Kind und vorlesen, ein Buch, noch eins
und noch eins.
â Mama, komm, schau dir unseren kleinen Frischling an.
â Ja, mach ich nachher, es schläft ja gerade, will ja niemanden
stören.
â Komm doch und schau, wie schön es schläft, es schreit gar nicht,
fast nie.
â Das kommt noch, sagtest du, die ersten Tage können noch so
friedlich sein. Dann tratest du doch an die Wiege, während das Kind an dir
zupfte und mehr Bücher lesen wollte, gleich gleich, wir lesen sofort weiter.
Das Baby lag auf der Seite, wie man es uns beigebracht hatte. Du schautest kurz
in die Wiege, jetzt hast du zwei. Wie die Familie wächst. Das war es, kein
Zeigefinger über die geschwungene Wange, kein Stupfer auf die winzige
Nasenspitze, nur keine Hoffnungen, du nicktest mir zu, und gleich zurück auf
den Sessel mit den Büchern, das groÃe Kind auf den Schoà und Reden auf Nummer
sicher.
Als die Oma deine Mutter starb, dachte ich einen Moment lang,
sie sei geplatzt. Natürlich war sie krank, das Herz, kein Wunder bei dem
Gewicht, immer wieder am Herzen krank, und du fuhrst hin und machtest sie heil,
so einfach war das. Mit schwacher Stimme rief die Oma an, bei mir, bei dir,
wisperte um Hilfe, schnappte nach Luft, immer war es dringend, mit dem Herz ist
ja auch nicht zu spaÃen.
â Ich muss zu ihr, es ist wieder so weit.
Du warst feierlich, konzentriert, etwas Erschöpfung flackerte am
Rand, weil es nicht das erste, nicht das zweite, nicht das hundertste Mal war
und immer so dringend und nur du, nur mit dir, nur von dir konnte die Oma
gerettet werden. Also konntest du nicht nicht können, du konntest ja nicht
einfach die Oma sterben lassen, du griffst nach der Tasche, die im Schlafzimmer
bereitstand hinter dem Kleiderständer, ein Handtuch war darin, Unterwäsche,
frische Seidenstrumpfhosen und das Massageöl für die FüÃe und den Nacken der
Oma. Ihre FüÃe waren weià und schmal, ich staunte oft, dass so zarte FüÃe
diesen schweren Körper tragen konnten, ohne an den Sohlen auszuplätten.
Inzwischen war sie so dick, dass kein Stuhl mehr passte, sie quoll
über die Sitzfläche. Es war so viel von ihr da, ich fühlte mich dürr, wenn sie
mich von allen Seiten umarmte.
An jedem Zeh zupfen, da sitzen die Nerven, mit dem Daumen an den
Sohlenrändern entlang, gewusst, wie.
Davon werden auch Tote lebendig, sagtest du, aber mit nicht zu viel
Schalk, schlieÃlich war die Lage ernst.
FüÃe sind nicht ohne, aber Nacken noch schwieriger: Da sitzt das
Ich.
â Ehrlich. Im Nacken.
Ich fuhr mir mit der Hand in den Nacken, fingerte nach einem
Knubbel, irgendeiner Verdichtung, einem Knoten vielleicht, aber da war nichts.
Du fuhrst hin, eine Ãbernachtung, mittags am nächsten Tag schon
wieder zurück, schon wieder Mittagessen für mich gekocht.
â Und ist sie wieder gesund.
Du nicktest, natürlich war sie gesund, was für eine Frage, wenn du
kamst, ging es ihr gleich besser, zehn Minütchen den Nacken gekrault, zehn
Minütchen die FüÃe gerieben, dazu von der Liebe geflüstert, das half immer.
Und als es dann nicht half, musste ich fast lachen. Am Telefon ein
Wispern:
â Mutter stirbt.
â Nein, nein, wie oft hast du das schon gedacht, so schnell stirbt
sie nicht. Die Oma, die überlebt alles.
â Aber irgendwann muss sie sterben, jetzt ist es so weit.
â Fahr doch erst mal hin
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