Chronik der Nähe
zur Oma, du weiÃt schon, nimm das Ãl mit.
Laut und fröhlich sprach ich in dein Wispern hinein, diese Oma
sollte dich in Ruhe lassen, verteidigen wollte ich dich, oder aufrüsten gegen
die Todesdrohungen der Oma, so schlimm konnte das nicht sein, schlieÃlich war
sie noch nie gestorben.
Du legtest auf. Du wolltest nicht gestört werden in der Angst um die
Oma.
Gut also, dann hab halt Angst um sie, dachte ich, vielleicht stirbt
sie ja wirklich, dann lässt sie dich endlich in Ruhe.
Nachts ein Telefongewirr, du riefst an, legtest auf, ich telefonierte
hinter dir her.
â Kommst du auch zu mir, wenn ich sterbe.
â Wo bist du denn, bist du in der Klinik, soll ich kommen.
Wie lange dauerte das, sollte ich dir helfen oder der Oma beim
Sterben. Tagelang war ich fahrig, las den Kindern Bilderbücher vor, saà auf dem
Spielplatz, kochte, mit einem Ohr lauschte ich, bis du wieder anriefst: ein
zerstörtes Wispern.
â Jetzt ist sie tot.
â Das tut mir leid, Mama, wirklich, war es denn schwer, soll ich
kommen, willst du, dass ich zu dir komme.
â Sie hatte kein gutes Leben, wispertest du.
â Mama, das stimmt doch nicht, sie hatte dich, sie hatte, na ja, sie
hatte ein Haus und später all die Jobs, und uns hatte sie doch auch, also, das
war doch ein ganz gutes Leben, finde ich.
Aber du hörtest gar nicht zu.
â Ein schlechtes Leben, ein Kriegsleben, alles kaputt.
â Mama, jetzt hör doch mal, als der Krieg vorbei war, da war sie
doch noch jung, sie hat doch noch jede Menge Spaà gehabt, ihr seid zusammen
verreist.
â In den Schwarzwald, wispertest du.
â Ja eben, in den Schwarzwald, das war kein so schlechtes Leben.
â Schlechter als meins, sagtest du, und darauf beharrst du, dein
Leben zu gut, ihres zu schlecht, ein Leben in Frieden gegen ein Kriegsleben.
â Ich wollte mich bei ihr entschuldigen, beharrst du, für mein
gutes, ihr schlechtes Leben, jetzt geht es nicht mehr.
Ich mache den Mund auf, um dir das alles auszureden, wer sagt denn,
fange ich an und höre gleich wieder auf. So geht es nicht.
Wann ist denn die Beerdigung, sage ich lieber, darauf gibt es eine
Antwort, wie praktisch.
Für die wachsenden Wünsche der Mutter reicht die kleine Stadt
nicht, sie schmiedet Pläne und wird unternehmungslustig, obwohl sie nicht mehr
so flott auf den Beinen ist.
»Ich finde«, sagt sie, »wir sollten verreisen, wir zwei Mädels. Ich
meine, wir leben sonst sehr, sehr bescheiden, wir leisten uns nichts, und du
warst noch nie woanders.«
»Doch«, sagt Annie, »zur Spargelernte in Holland, weiÃt du nicht
mehr, und eine Bootsfahrt auf dem Niederrhein.«
»Ich meine ferne Länder«, ruft Mutter, »nicht den Niederrhein, ich
kann es nicht ertragen, dass du keine Träume hast, ich habe eine Tochter ohne
Träume groÃgezogen, der Krieg hat sie dir genommen.«
Sie fuchtelt herum und schaut Annie leidenschaftlich an.
»Ach, weiÃt du«, sagt Annie, »ich hab doch Träume«, und sie will der
Mutter gerade davon erzählen, von ihrem Plan, Sprachen zu studieren und einen
Beruf mit Sprachen zu haben, vielleicht doch nicht Lehrerin, sondern etwas ganz
Neues, aber diese Art von Traum will Mutter nicht hören.
»Als ich in deinem Alter war, hatte ich so viele Träume«, ruft sie,
und Annie fällt ein, dass Mutter in dem Alter fast schon verheiratet war mit
einem älteren, gütigen Maler, der ihr die Mohnblumen gezeigt hat wie einem
Kind, und ob das wohl die Träume waren, die Mutter meint.
»Reisen«, ruft Mutter, »Paris.« Aber in
Paris hat Vater die besten Jahre verbracht, damit ist Paris aufgebraucht, Annie
will auf keinen Fall dorthin und eigentlich nirgendwohin. Sie will zur Schule
und zur Tanzschule und auf keinen Fall die Nachhilfe absagen, weil sie das Geld
braucht, sowieso gibt es kein Geld für Paris oder andere Träume, woher soll es
denn kommen, Kaltmamsells fahren nicht nach Paris.
Aber Mutter setzt alles in Bewegung. Und wenn Annie nicht nach Paris
will, fahren sie eben nach Spanien oder Italien wie die Nachbarn, die sich
sogar ein Auto gekauft haben, das muss ja nicht gleich sein, Autos sind für
Angeber, aber Träume versetzen Berge. Plötzlich hat Mutter etwas Geld und
verrät mal wieder nicht, woher es kommt, und bald sind Sommerferien, dann fällt
die Nachhilfe sowieso aus und die Tanzschule auch, »du brauchst ja auch
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