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Chronik der Nähe

Chronik der Nähe

Titel: Chronik der Nähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annette Pehnt
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wem denn.
    â€“ Wie, du weißt nicht, von wem es ist.
    â€“ Nein.
    â€“ Ja, wenn du das nicht weißt, wieso willst du dann ins Theater.
    â€“ Um mit dir das Stück zu sehen.
    â€“ Aber du weißt ja gar nicht, welches.
    â€“ Nein, ich sehe es ja gleich.
    â€“ Dann wäre doch Fernsehen besser für dich eigentlich, oder.
    Ich steckte die Waffe zurück in die Hülle, sie hatte gut getroffen.
Du warst in dich zusammengesunken und schautest mit einer Ergebenheit und Leere
aus dem verschlierten Straßenbahnfenster, die ich sofort erkannte: Es war die
Schusswunde, die musste ich versorgen, sonst würde es nicht gut ausgehen, und
das wollte ich ja auch nicht. Niemand sollte verbluten müssen, und schon gar
nicht du. Zugleich ein Stolz: Was bin ich für ein guter Schütze.
    â€“ War nur ein Spaß, klar sehen wir es gleich, ich kann dir auch ein
bisschen was darüber erzählen, hab gerade etwas gelesen über das Stück.
Zufällig.
    Dein verwundetes Lächeln: Gegenangriff, kaum zu parieren.
    â€“ Mama, ein dummer Spaß, komm. Tut mir
leid, kam vielleicht nicht so nett rüber, tut mir leid, Mama, wollen wir danach
noch ein Glas Wein trinken gehen. Mama .
    Das große Schweigen war ausgebrochen. Du hattest alle Waffen
gestreckt. Wir gingen ins Stück, es war schauderhaft langweilig, aber mein Herz
schlug so schnell, dass mir schwindelig wurde. Du neben mir ganz still, beide Hände
auf der Lehne, die Beine überschlagen, die Handtasche fein säuberlich unter den
Klappsitz geschoben. Ich traute mich nicht, zu dir herüberzuschauen, ich wollte
die Zeit zurücknehmen, die Straßenbahn zurückschicken, uns wieder ins Haus
zurück, Mäntel aus, Schuhe aus, dann noch mal von vorne. Waffen bleiben zu
Hause: Es ist einfach zu gefährlich.
    Dann war es amtlich: promoviert mit einer guten, wenn auch nicht
sehr guten Note. Papa machte Sekt auf, den ihr eigentlich nicht mögt.
    â€“ Warum eigentlich nicht sehr gut. Gelernt hast du doch sehr gut.
Promoviert mit einem Kleinkind, und für wen soll das gut sein.
    â€“ Für mich soll das gut sein und für das Kind, und die Note ist mir
egal, und allen anderen kann es egal sein, und dir kann es egal sein.
    Als du erzähltest von einem Vortrag, den du vielleicht vor anderen
Übersetzern halten könntest, das hattest du noch nie gemacht, etwas Neues, eine
Ehre, da beugte ich mich, ich konnte nicht anders, vor. Und fragte dich
besorgt, du weißt aber, dass die Zuhörer alle studiert haben.
    Und schaute schnell weg, weil ich schon wusste, wie es in deinen
Augen aussah.
    Dabei hast du ja auch studiert, Annie hat studiert, das, was sie
wollte, das, was du gut konntest, Fachschule, Uni, wen kümmert es, wir waren
uns ebenbürtig, kein Grund, die Waffen zu schärfen, meine Güte, das kann man
doch nicht vergleichen, das darf man gar nicht vergleichen, Birnen und Äpfel
kann man nicht vergleichen. Aber ich habe bald zwei Kinder. Du nur eins.
    Ich liege abends bei meinem Kind so lange, wie es ihm guttut, und
wenn es dir zu lang ist, kannst du ja gehen, nach draußen, ins Kino, auf den
Balkon, zur Birke eine rauchen.
    Ich habe dich lieb und du nicht.
    Eine Zeit lang fiel ich oft in Ohnmacht: das Wachstum, die
Hormone, alles wackelig, man weiß nicht, ob der Boden, auf den man eben so
tritt, auch wirklich hält.
    Die Ohnmacht kündigte sich durch ein Rauschen im Ohr an, oft nach
viel Essen, zweimal in Restaurants, die ganze Familie schön essen, auch die Oma
deine Mutter am Tisch. Extra angereist, irgendetwas gab es zu feiern, einen
runden Geburtstag, Hochzeitstag, Ostern. Ein Lokal ganz in Weiß und Weinrot,
dicke weinrote Läufer auf dem abgeschliffenen Parkett.
    Alle redeten, die Oma sehr laut, weil sie schlecht hörte und auf
jeden Fall lauter sein wollte als die anderen, die anderen auch laut, weil sie
sonst gar nicht zu Wort kamen. Es ging um früher, ob es vor der Währungsreform
noch Lebensmittelkarten gab oder nicht, die Oma wurde bei Widerspruch
weinerlich, ich beobachtete, wie die Oma dir einen weinerlichen flehenden Blick
zuwarf, und hörte auf einmal nur noch ein Rauschen und dahinter sehr fern eure
Stimmen.
    Ich stand auf, hielt mich am Tisch fest, ging drei Schritte über den
Läufer, und auf einmal schoss alles auf mich zu, die anderen Tische, die Gäste,
die Kerzenständer rasten in meinen Blick und verschmolzen zu einem Punkt, und
dann war

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