Chronik der Nähe
Tanzeinlagen, sitzt Mutter vor einem
groÃen Teller mit Häppchen, gefächerten sauren Gurken, Rindfleischschnittchen
mit Meerrettich und Mayonnaise-Eiern mit falschen Kaviarsprenkeln, das Gesicht
gerötet, an den Wangen verschmiert, und isst.
»Willst du auch was«, murmelt sie, »du hast doch sicher Hunger.«
Annie nimmt sich ein Leberwursteckchen und beobachtet Mutter dabei,
wie sie zwei Käsehappen mit Weintrauben, ein Hühnerbeinchen und drei
Sardellenkräcker sehr rasch nacheinander aufisst.
»Kaltes Buffet«, sagt sie mit vollem Mund, »deine Mutter ist jetzt
eine Kaltmamsell, das ist ganz modern.«
»Aha«, sagt Annie und hat nichts dagegen, dass Mutter wieder einen
neuen Beruf hat und abends kalte Platten mit nach Hause bringt, aber warum der
Mutter nach dem fünften Häppchen plötzlich die Tränen über die Backen laufen,
würde sie doch gerne wissen.
»Freust du dich nicht, Mutter«, fragt sie, »da kriegst du sicher
eine gute Bezahlung, und die Häppchen schmecken wirklich gut.«
Mutter nickt und weint, und als Annie ihr lange genug die Hand
gestreichelt hat, hört sie auf zu schluchzen, und zusammen essen sie den Rest,
und Mutter schleckt sich hinterher wie ein Kind die Finger ab.
»Das macht man nicht«, kichert sie, »aber das weiÃt du ja.«
Es gibt jetzt jeden Abend, an dem Mutter Kaltmamsell ist, Häppchen
auf silbernen Platten, geschmückt mit Silberzwiebeln, Käsewürfeln,
Gurkenschiffchen, und wenn Annie abends spät nach Hause kommt, findet sie die
leeren Platten und die schlaffe Dekoration, Mutter muss alles aufgegessen
haben, als gehöre zu ihren Aufgaben als Kaltmamsell auch das Vertilgen der
Reste. Sie hat nun oft Verstopfung und sitzt lange auf dem Etagenklo, und Annie
streicht durch die Wohnung und wartet, dass die Tür aufgeht. Dafür gibt es
weniger Tränen, es ist, als wenn der ewig wachsende Körper der Mutter die
Traurigkeit aufsauge, sie isst die Häppchen und bekommt noch rundere Backen und
noch breitere Oberschenkel, es ist einfach mehr von ihr da, nicht das
Schlechteste nach einer langen Zeit des Mangels.
»Früher habe ich mein Leben riskiert, um Essen für dich zu
besorgen«, sagt sie, »weiÃt du das eigentlich.«
»Und jetzt bekommst du es geschenkt«, sagt Annie, die immer dünner
wird und in die Höhe schieÃt, sie sind ein seltsames Paar, wenn sie zusammen
durch die Stadt gehen, Mutter untergehakt an Annies Arm. Sie suchen in den
Läden neue Kleider für Mutter, weil die alten nicht mehr passen, und kaufen sie
nicht, weil die neue Mode unerschwinglich ist. Alles ist neu, auch die
Bürgersteige sind wieder ordentlich gepflastert und verfugt, und vor dem
Bahnhof gibt es frisch gestrichene StraÃenlaternen. Mutter lädt sie ins
blendend rosa Café auf eine heiÃe Schokolade ein, Kuchen soll sie sich auch
aussuchen und steht blinzelnd vor der Theke, Torten, Windbeutel, Blechkuchen,
ein paar Wespen schwirren darüber.
»Früher haben wir Kuchen aus gemahlenen Eicheln gebacken«, sagt
Mutter, »Rübensirup statt Zucker.«
»Du hast doch nicht gebacken«, sagt Annie, die sich an alles von
früher erinnert, ihr Gedächtnis ist scharf und wendig und kann in jede Erinnerung
tief hineinschlüpfen, so tief sie will und manchmal sogar tiefer, als ihr lieb
ist. Sosehr sie sich auch erinnert, Mutter mit einem frisch gebackenen Kuchen
in der Hand ist nicht zu finden, sie war ja nicht da, um Eicheln zu sammeln, zu
mahlen und mit Rübensirup zu einem Teig zu verkneten, das Kindermädchen ja,
aber nicht die Mutter.
»Natürlich habe ich gebacken«, lächelt Mutter, »das weiÃt du
vielleicht nicht mehr, und es hat gar nicht so schlecht geschmeckt, nur
hinterher Verstopfung, vor allem den Onkel Hermann hat es immer erwischt, der
hatte dann tagelang Beton im Hintern«, und sie lacht laut.
Annie glaubt ihr kein Wort. Mutter war nie da, also hat sie auch
nicht gebacken, sie hat Annie mit den Hühnern im Garten allein gelassen, den
Onkel Hermann hat Annie in der Baracke zum ersten Mal gesehen, der war nie zum
Kaffeetrinken da. »Natürlich nicht zum Kaffeetrinken«, lächelt Mutter, »das hab
ich auch nicht behauptet, es gab ja keinen Kaffee.«
Annies Magen wird plötzlich so klein wie ein hart gekochtes Ei, sie wird nichts
essen können. Dafür bestellt Mutter zwei Stücke, und als dann die
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