Chronik der Nähe
kein
Tanzen mehr zu lernen, du kannst es doch schon, spar dir das Geld für GröÃeres,
vielleicht für ein Auto, eine kleine Arabella, und im Juli fahren wir an den
Titisee.«
»Titisee, das klingt nicht italienisch.«
»Nicht ganz. Italien ist zu teuer und zu weit, alle wollen nach
Italien. Da müssen wir nicht mitmachen. Wir haben unsere eigenen Ideen.«
Annie hat keine Ahnung, was Mutter vorschwebt und wo der Titisee
liegt. »Schwarzwald«, sagt die Mutter, das klingt nicht verlockend, schwarzer
Wald, und wie geht das eigentlich, Urlaub machen â was werden sie tun, werden
sie baden oder essen, lesen vielleicht, Ausflüge machen, wandern.
»Alles das«, sagt Mutter schwärmerisch, »und noch viel mehr.«
Als sie losfahren, im Auto eines Kollegen der Mutter, der eine Tante
im Schwarzwald besucht, weil die Bahn unbezahlbar ist, sitzt Mutter vorne auf
dem Beifahrersitz und sprudelt vor Reiselust, lässt sich von dem Kollegen
Sehenswürdigkeiten beschreiben, Bollenhüte, den Feldberg und die Farbe der
Tannenwälder im Herbst, genauso wie im Sommer, das ist ja das Wunderbare an
Tannen, dass sie keine Blätter verlieren, die Schönheit der Triberger
Wasserfälle und des geräucherten Schinkens, den man mit Kirschwasser
herunterspülen soll.
»Das versuchen wir, mein Schatz. Du kriegst dann auch mal ein
Schnäpschen.« Essen gehört zu Mutters neuen Träumen,
es sind deftige, gut zu erfüllende Träume von Hunger und Speisung.
Während Mutter die Schönheiten des Urlaubs plant, überlegt Annie, ob
Mutters Kollege auch Kaltmamsell ist oder worin sie sonst Kollegen sein
könnten. Der Kollege legt Mutter, nachdem er ihnen die Koffer vor die Pension
gestellt hat, kurz den Arm um die Schultern und murmelt, die Tante sei so weit weg
nicht, vielleicht sähe man sich, aber Mutter ist schon mit den Gedanken ganz
woanders, winkt ihn fröhlich davon und kichert vor Freude über die
Kuchenauslagen und Wirtshausschilder, die das Ãrtchen für sie in ein
Schlaraffenland verwandeln, als ob dieser Urlaub zu guter Letzt die Belohnung
sei für die vielen Jahre mit dem Brot aus gemahlenen Eicheln.
Die Pensionsmutter öffnet die Tür, sie ist schwer, aber auf winzigen
FüÃen beweglich und hat eine feine hohe Stimme, es ist Liebe auf den ersten
Blick, die beiden Mütter schauen sich an, die eine sagt etwas Lustiges, die
andere schüttelt sich sofort bereitwillig vor Lachen, die Pensionsmutter greift
nach den Koffern, Mutter wehrt bescheiden ab, fast fangen sie an, auf dem Flur
liebevoll zu rangeln, und Annie steht daneben und spürt starkes Heimweh, nur
weià sie nicht, wonach.
Wie denn die Fahrt war, ob sie beschwerlich war, wie gut, dass sie
so viel Zeit mitgebracht haben, es lohnt sich in dieser Gegend, gibt so viel zu
entdecken, und ob sie denn schon mal den guten Schwarzwälder Schinken probiert
hätten.
Schon sitzen die beiden Frauen im Gemeinschaftsraum und rauchen, die
Pensionsmutter, die eigentlich aus Kassel stammt, im Krieg ausgebombt und die
Pension geerbt, erzählt vom Leben im Schwarzwald, dem verstockten Volk, das
hier lebt, aber zum Glück kommen das ganze Jahr über liebe Gäste, von denen
zehrt sie. Das kann Mutter verstehen, sie zehre auch, sagt sie, von den Gästen,
eigentlich sei sie ja im gleichen Gewerbe, Fremdenverkehr, Gastronomie, Kochen,
kalte Platten, und wenn jemand die Augen glücklich aufreiÃe, weil es ihm so gut
schmecke, sei ihr das die schönste Belohnung, und sie wirft Annie einen Blick
zu.
Annie versteht, dass Mutter sie damit beschuldigt, nicht oft genug
die Augen glücklich aufzureiÃen. Unwillkürlich senkt sie die Lider und sucht in
der Tasche ihrer Strickjacke nach den Zigaretten. Der Griff ist ansteckend,
gleich kramt die Pensionsmutter in ihrem Hauskleid und gibt Annie und sich
selbst Feuer, »Mädchen, Mädchen«, sagt sie, »ein bisschen mal sich vergnügen,
mal raus aus dem alten Quark, das ist gut, du kannst was auf die Rippen
vertragen, und hier gibt es auch hübsche Jungs.«
»Die hat sie schon zu Hause genug«, lacht Mutter, und beide schauen
vergnügt kopfschüttelnd durch den Rauch auf Annie, als sei sie ein
appetitlicher Anblick, aber rettungslos und für immer zu jung.
»Was für ein Alter«, sagt die Pensionsmutter sehnsüchtig, und Annie
versucht, sie sich vorzustellen, dünn, langhaarig, auf leichten
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