Chronik der Nähe
FüÃen, ein
pfiffiger Blick für die Kasseler Jungs.
Dann beziehen sie ihr Zimmer, holzgetäfelt und sauber geschrubbt,
frische Luft steht vor dem Fenster, eine kühle Verpflichtung, und das Bett, das
sie teilen, hat gewaltige Federdecken, die über die Matratzen quellen wie
Sahne. Mutter wirft sich gleich auf die Decken und räkelt sich genieÃerisch,
während Annie zügig den Koffer auspackt, die Blusen und Röcke auf die Bügel,
die vernünftigen Schuhe unters Bett, viel Platz gibt es nicht, und sie will
alles so frei wie möglich halten.
»Hier kann man es doch aushalten«, ruft Mutter und dreht sich auf
die Seite. Beklommen bürstet Annie Haare und Zähne und wäscht sich, sie braucht
mehr Seife als sonst und tropft den Linoleumboden voll, aber Mutter beschwert
sich nicht, sie klopft auf die Kissen und ruft neckisch, hier wäre noch mehr
Platz, oder was meinst du, und dann rollt sie sich auf den Bauch und stützt das
Kinn auf die Hände.
»Nun lass dich doch mal richtig anschauen, so groÃ, wie du geworden
bist, eine Frau bist du, ich seh ja nie was von dir.«
Sie lässt die Augen an Annie entlangwandern, die sich schnell
abtrocknet und versucht, die Pfütze auf dem Boden mit dem Fuà zu verreiben.
»Lass mal, das wischen wir nachher weg«, sagt Mutter, »deinen langen
Hals hast du ja behalten, aber obenrum schön füllig, das kommt sich gut aus.«
»Mutter«, murmelt Annie, während sie sich rasch das Nachthemd über
den Kopf zieht, »hör auf damit.«
»Ich als Mutter darf das doch sagen, bin doch stolz auf dich, und
hab ich dir nicht alle Freiheiten gelassen.« Dann
liegt sie auf dem Rücken und schmiedet Pläne für die nächsten Tage, eine
Bootsfahrt, Schwarzwälder Schinken, mit der Gondel ganz nach oben auf die
Berge, und genau das machen sie, es wird alles genau so, wie Mutter es geplant
hat.
Nur manchmal, wenn Mutter mit der Pensionsmutter im
Gemeinschaftsraum sitzt und mit zunehmend schwesterlicher Innigkeit flüstert
und lacht, ist Annie entlassen, geht über die nach Kaffee und Torten duftende
DorfstraÃe, über die Weiden hoch bis zum Waldrand. Die Wanderwege führen nicht
hier entlang, niemand kommt vorbei. Das Gras ist süà und weich, aber Annie
steht der Sinn nicht nach Gras, und die satte Frische der Weiden und das
blauere Grün der Wälder belagern ihre Augen, sie will Rot sehen, Gelb und
Beton, sie will die silberne Fassade des Kaufhauses an der Ecke sehen und ihre
schmalen Schuhe anziehen und das Geräusch der Absätze auf dem Pflaster hören,
und die drei Wochen sind eine schiere Ewigkeit, dessen Ende Mutter schon
beklagt, als noch nicht einmal die Hälfte vergangen ist.
Während sie auf einen der düsteren Hügel wandern, die das Tal
umstehen, schwört sich Annie, niemals wieder spazieren zu gehen, höchstens mit
einem Jungen, der sie währenddessen so heftig küsst, dass ihr Hören und Sehen
vergeht, und falls sie jemals Kinder haben sollte, ein Gedanke, der gar nicht
zu ihren Träumen gehört, werden diese Kinder niemals einen Schritt nach drauÃen
tun müssen, sie dürfen in ihren Zimmern sitzen und lesen und knutschen, und
falls das ungesund ist, werden ihre Kinder eben mit Luftmangel und Bewegungsmangel
aufwachsen, sie werden nicht daran sterben, es wird noch nicht einmal
auffallen, weil sie in einer GroÃstadt leben werden, in der es sowieso weit und
breit keinen Baum geben wird.
Sonntag
Sonntag ist Besuchstag. Alle besuchen die Kranken, was das
Zeug hält, und solche wie ich, die täglichen, geübten, erschöpften Besucher,
verschmelzen mit dem unbehaglichen, unverbrauchten, beklommen an der Pforte
herumstehenden Besuchernachschub. Es kommt mir vor, als wäre ich schon
jahrelang hier, ich mustere sie, die Besuchsstümper mit den sorgenvoll
gedämpften Stimmen, sie sind stolz, dass sie es bis hierher geschafft haben,
sie schauen um sich, als erwarteten sie eine Gratulation. Ihre Geschenke
drücken sie an sich, als fürchteten sie, man könnte sie ihnen entreiÃen, bevor
sie ihre Kranken gefunden haben, ständig fragen sie nach dem Weg, als hingen
nicht überall gut beleuchtete, deutlich lesbare Stationswegweiser. Ich weiÃ
nicht, wo deine Besucher sind, deine Freundinnen, es gibt viele, aber hierher
komme nur ich, schon tagelang, jahrelang, ich bin deine Besucherin, so lange
wie nötig. Ich
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