Chronik der Nähe
hat
Mutter für teures Geld ins Café Kranz eingeladen zu einem cremigen Kakao, sie
hat ihr abends die FüÃe massiert, immer um die Knöchel und zwischen den Zehen
durch, bis Mutter so unziemlich stöhnte, dass Annie aufhörte. Von dem Geld, das
sie für die gebrauchten Schulbücher bekam, schenkte sie Mutter ein Waffeleisen,
obwohl sie dringend neue Tanzschuhe gebraucht hätte. Der Junge, mit dem sie
seit kurz vor dem Abitur tanzt, schleudert sie so stürmisch herum, dass sich
die Sohlen viel zu schnell abnutzen. So küsst er auch, heftig und stoÃweise.
»Von dem Waffeleisen«, sagt Mutter strahlend und streicht das
Geschenkpapier glatt, »haben alle etwas«, auch der Junge soll kommen, sich an
den Tisch setzen und mit ihnen Waffeln essen, jetzt, wo es wieder gute Butter
gibt, schmecken sie zum Kinderkriegen.
»Butter gibt es schon seit Jahren wieder«, sagt Annie, sie ist für
die Richtigkeit der Erinnerungen zuständig, auch wenn das Mutter gar nicht
interessiert. Der Junge hat seine Hose für das Waffelessen von seiner Mutter
bügeln lassen und die Haare fest an den Kopf geölt. Als Annie ihm die Tür
öffnet, gibt er ihr aus Versehen die Hand. Sie fällt ihm um den Hals und drückt
sich so lange an ihn, bis sie sicher ist, dass er sie spürt, dann schiebt sie
ihn durch zu Mutter. Mit Annies Jungen ist Mutter mütterlicher als mit Annie,
zugleich aber auch mädchenhaft frech und pfiffig. Sie träufelt Waffelteig auf
die Fläche, zwinkert ihm zu und sagt, »wie schön, dass wir drei auch mal
gemütlich beisammen sind. Oder wärt ihr lieber allein, mal ganz ehrlich.« Annie errötet, der Junge zerreiÃt die Waffel auf seinem
Teller mit den Fingern, bis er es merkt und die Hände unauffällig mit einem
Taschentuch säubert.
»Ich bin nicht so verklemmt wie die meisten Mütter«, erklärt Mutter
dem Jungen und wirft ihm schwungvoll noch eine Waffel auf den Teller, »ich weiÃ
nicht, wie deine Mutter das sieht, aber ich finde, man kann über alles reden,
und so halten wir es auch, oder.« Annie nickt, sie würde lieber über viel
weniger reden, am besten wäre es, rasch die Waffeln zu essen und sich dann
drauÃen den Puderzucker von den Lippen zu küssen. Sie wirft dem Jungen einen
kurzen Blick zu, um zu sehen, ob er das Gleiche denkt, aber er reibt sich noch
immer die Finger und schaut niemanden an. Dafür wird Annie ihn später belohnen,
wenn Mutter ein kaltes Buffet wo auch immer aufbaut, ein Schulbuffet, das viel
zu schnell geht, oder ein Firmenbuffet, das sich ewig hinziehen kann, weil die
Führungskräfte und die Belegschaft miteinander die fetten Jahre feiern, und je
länger sie sich die Bäuche vollschlagen, umso besser für Annie und den Jungen,
die schnell und gewandt geworden sind. Danach unter der Decke still zu liegen
ist für Annie ein neues Geschenk, ein Geschenk der Kaltmamsell an ihre nicht
verklemmte Tochter. Dieser Junge ist anders als die ersten, er fingert nicht
ständig an ihr herum, sondern kann auch ruhig liegen und ihr zwischen die
Schulterblätter atmen, und manchmal schlafen sie ein, seine Hand in ihrem
Nacken.
Er will nicht, dass sie Sprachen studiert, weil er sie nicht gehen
lassen will. Nach den Einladungen, den Massagen und dem Waffeleisen ist sich
Annie sicher, dass Mutter, auch gegen Onkel Hermanns Gemecker, einsichtig und
vernünftig alles erlauben wird, aber dem Jungen hat sie schon so viel mehr
geschenkt und weià nicht, wie sie ihn noch überzeugen kann.
»Du kannst doch die Sprachen alle schon«, sagt er trotzig. »Ich will
sie aber noch besser lernen«, sagt Annie, »und alles andere auch, ich will
einfach lernen, verstehst du.« »Du kannst doch hier
etwas lernen«, jammert der Junge. Annie überlegt fieberhaft, was sie ihm nur
schenken könnte, damit er aufhört zu jammern. SchlieÃlich küsst sie ihn, da
hört es eine Weile auf.
»Du kommst sicher jedes Wochenende nach Hause«, sagt Mutter, »dann
kannst du die Wäsche ja mitbringen.«
»Mutter, dafür habe ich doch gar kein Geld, jedes Wochenende geht
auf keinen Fall«, ruft Annie, »nur wenn du mir die Fahrkarte bezahlst.«
»So«, sagt die Mutter, und plötzlich kühlt ihr Blick doch herunter,
»das bin ich dir also nicht wert.«
»Doch natürlich, Mutter«, ruft Annie, »es ist aber einfach zu teuer,
du
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