Chronik der Nähe
wirst sehen.«
»Erst mache ich Abitur«, sagt Annie und freut sich über das verärgerte
Schmatzen des Onkels, er wischt sich die Finger am Hemd ab, sein Mund sieht aus
wie mit groben Stichen zusammengenäht. Gleich wird er ihn wieder öffnen, ein
Salamihäppchen ist noch übrig, und niemals würde der Onkel es liegen lassen.
Aber einen Moment lang scheint es möglich, dass die Lippen des Onkels fest
verzurrt bleiben, zur Not, wenn sie gar nicht mehr aufgehen, könnte man ihm ein
Loch in die Speiseröhre schneiden, überlegt Annie und erschrickt fast über den
lauten Rülpser, der dem Onkel auf einmal durch die Lippen stöÃt.
Zu Hause arbeitest du auf dem Sofa, liest auf dem Sofa,
schläfst dort, du sitzt auf dem Sofa und rauchst, übersetzt ein Buch nach dem
anderen, schreibst Briefe, an wen eigentlich. Es ist deine Basis. Du ziehst die
Beine unter den Po wie ein Mädchen und schaust nach drauÃen.
â Ich weià nicht, sagst du, jetzt, wo du schon so lange weg bist,
kommt der Herbst früher, und die Arbeit ist manchmal sehr zäh, es gibt auch
nicht mehr so viel zu tun, weniger Aufträge, vielleicht bin ich einfach zu alt,
zu langsam, will auch mehr Geld als die Jüngeren, vielleicht sollte ich
aufhören.
â Nein, sage ich, warum denn aufhören, du bist doch gut, warte nur,
die Aufträge kommen ja wieder, es gibt doch immer Flauten, das kennst du doch
schon, du hast doch Stammkunden. Und so ist es, nach den Flauten wieder neue
Bücher, Buch um Buch füllen sie Regale, du kannst daran entlangstreichen und
sie zählen. Immer gearbeitet, Satz um Satz herausgezupft, angeschaut und neu
eingekleidet, eine Grammatik der Geduld, die dich bisher nie verlassen hat.
â Kommst du mit, wir machen einen Spaziergang.
â Ach, es ist so ungemütlich, sagst du, ich bleibe viel lieber
einfach hier sitzen.
â Aber du kannst nicht immer dort sitzen, dein Kreislauf, deine
Stimmung, du musst schon mal was machen, mal an die frische Luft, mit Papa hast
du das auch gemacht. Guck, deine Hände sind ganz kalt, warum machen wir nicht
endlich diese Reise, eine Reise zusammen irgendwohin.
â Immer dasselbe, sagst du, die Arbeit ist immer dasselbe, es
wiederholt sich alles.
â Aber du magst doch die Arbeit.
Nun werde ich aufgeregt, das hat es noch nicht gegeben, dass du dich
über die Arbeit auf diese Weise beklagst, du beschwerst dich schon über die
Bücher, die langen ungeschickten Sätze, die du behutsam verbesserst, ein
geduldiges kaum spürbares Zurechtrücken, den Termindruck, die schlechte
Bezahlung, klar, das gehört dazu.
Aber nicht, dass sich alles wiederholt, und dass ich aus dem Haus
bin, hat dich auch nie besonders gestört, sogar ohne Papa im Haus gab es immer
die Arbeit, und auf einmal willst du nur auf dem Sofa sitzen und nach drauÃen
starren. Die Arbeit neben dir gestapelt, aber nicht angerührt.
â Setz dich doch an den Schreibtisch, Mama, da kannst du sicher
besser arbeiten, das ist auch besser für den Rücken.
â Lass mich nur hier sitzen.
Da ist etwas faul. Ich muss dir ein bisschen Dampf machen, dich
einladen, dich zwingen auf einen Spaziergang, dir die FüÃe massieren, aber du
willst nicht.
â Ach lass mal, ich hab mir die FuÃnägel nicht geschnitten.
â Mama, das ist mir egal.
â Mir aber nicht, der Onkel Hermann hat immer gesagt, sie müssen
jederzeit gut geschnitten sein, weil man auf der StraÃe angefahren werden kann,
und ins Krankenhaus mit langen FuÃnägeln, da schneidet sie dir keiner.
â Welcher Onkel Hermann.
â Den kennst du nicht mehr.
â Weil du mir nie was von früher erzählst. Erzähl mir doch mal vom
Onkel Hermann, wer war das denn überhaupt, Omas Bruder oder was.
â Nachher vielleicht, bringst du mir mal die Nagelschere.
â Mama, du bist hier nicht in der Klinik, auch wenn du so tust, als
könntest du nicht mehr aufstehen.
Du schaust mich an, als hätte ich keine Ahnung, was los ist: ein
ruhiger Blick ganz ohne Ãberlegenheit, der mich hilflos macht, weil er
unbewaffnet ist.
â Mama, was ist los.
â Gar nichts.
Studieren: warum nicht. »Dumm bist du ja nicht«, sagt
Mutter nüchtern, »und wenn du es selbst bezahlst. Aber wehe, du wirst
mittendrin schwanger.« Mutters nüchternen Segen hat
Annie sich einiges kosten lassen, richtig ins Zeug hat sie sich gelegt. Sie
Weitere Kostenlose Bücher