Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
die der zweiten. Nur einen Augenblick später hörte er ein Scharren und dann den typischen Laut, mit dem ein Ruder ins Wasser getaucht wird.
Wütend auf sich selbst, nicht genau das vorausgesehen zu haben, versuchte Andrej noch schneller zu laufen und kam nur mit Müh und Not (und heftig rudernden Armen) zum Stehen, als der Boden vor ihm plötzlich abbrach und gute drei Meter tiefer zu einem kaum armbreiten Strand aus grobem Kies wurde. Das Licht reichte gerade noch aus, um das schlanke Boot zu erkennen, das mit schon fast unheimlicher Schnelligkeit davonschoss.
Zuerst war Andrej ernsthaft versucht, die Verfolgung fortzusetzen. Er war ein ausgezeichneter Schwimmer und würde vermutlich selbst ein von zwei Ruderern angetriebenes Boot einholen können, wenn er sich wirklich anstrengte … aber was dann? Die beiden Kriegerinnen würden ihm wohl schwerlich an Bord helfen und sich bei ihm entschuldigen, ihn zu diesem unfreiwilligen Bad gezwungen zu haben.
Von Meruhe selbst ganz zu schweigen.
Falls es Meruhe gewesen war. Aber wer sonst sollte es sein?
Andrej blieb so lange reglos stehen, bis das Boot vollends in der Dämmerung verschwunden war, nutzte die Zeit, um sich nach Kräften über sich selbst zu ärgern. Dann machte er kehrt und ging zu Scalsi und seinem Gehilfen zurück.
Er hatte ein paar Fragen an den guten Doktor.
Kapitel 14
Als Andrej zurückkam, kniete Scalsi neben dem geöffneten Grab und bemühte sich um seinen verletzten Gehilfen. Die Dunkelheit hinter ihm bewegte sich, als wären die Schatten zum Leben erwacht, um Andrej zu belauern. Vielleicht waren es aber auch nur die Gespenster seiner außer Rand und Band geratenen Fantasie. Seine Hand blutete immer noch, also ballte er sie zur Faust und presste sie unauffällig so an die Seite, dass es in der Dunkelheit nicht sofort auffiel. An seinen zerschnittenen Kleidern und dem Blut darauf konnte er nichts ändern.
Andrejs Sorge erwies sich jedoch als überflüssig. Scalsi sah nicht einmal zu ihm hoch, sondern bemühte sich weiter um den Verletzten. Andrej sah bewusst nicht hin, registrierte aber trotzdem das Blut, sehr viel Blut, sowohl auf Scalsis Händen als auch auf Claudios Gesicht, dessen Atem rasselnd und schwer ging.
»Rollt ihn auf die Seite«, befahl er, »damit er nicht an seinem eigenen Blut erstickt!«
Scalsi starrte ihn beinahe hasserfüllt an, tat aber trotzdem, wie ihm geheißen, und drehte den Verletzten auf die Seite. Claudio begann zu weinen wie ein verängstigtes Kind, übergab sich würgend auf Scalsis Schoß und Hände und heulte dann noch lauter weiter.
»Ihr habt ihm den Kiefer gebrochen«, sagte Scalsi. »Er wird sterben. Und ich dachte, Ihr wärt anders als diese schwarzen Bestien.«
»Er stirbt nicht«, antwortete Andrej bewusst rüde. Was er getan hatte, nagte an ihm, aber er ließ nicht zu, dass sein schlechtes Gewissen seine Handlungen beeinflusste. »Und schon gar nicht daran … und wen habt Ihr mit den schwarzen Bestien gemeint, Dottore?«
Scalsi sah zum ersten Mal wirklich zu ihm hoch. Beinahe glaubte Andrej, so etwas wie Erschrecken in seinen Augen zu erkennen. Aber vielleicht war es auch nur Furcht. Scalsi war Arzt und sollte den Tod gewohnt sein, auch das Sterben … aber vielleicht nicht das Töten. Nicht so. So endlos ihm selbst der Kampf auch vorgekommen war, hatte er in Wahrheit doch nur wenige Augenblicke gedauert. Der Dottore wäre nicht der erste Mann, der im Angesicht einer solchen Explosion brutaler Gewalt zusammenbrach. Scalsi schwieg.
»Abu Dun ist nicht hier«, fuhr Andrej fort. »Und er hat auch nichts«, er deutete mit dem Kopf auf das aufgebrochene Grab, »damit zu tun.«
Scalsi sagte immer noch nichts, und der Schrecken in seinem Gesicht war keinen Deut schwächer geworden. Andrej setzte dazu an, ihn anzuherrschen, überlegte es sich aber dann anders und wandte sich in der Hocke um, um das geschändete Grab, das er gerade schon unfreiwillig erkundet hatte, noch einmal in Augenschein zu nehmen. Er sprang hinein, und als er behutsam mit der unversehrten Hand in der lockeren Erde grub, stieß er schon bald auf grobes Sackleinen, in den ein lebloser Körper gehüllt war. Er musste nicht fragen, er wusste auch so, was er da gefunden hatte.
»Ihr habt mich belogen, Dottore«, sagte er. »Ihr habt behauptet die schwarze Frau nur ein einziges Mal gesehen zu haben, aber das war nicht die Wahrheit, habe ich recht?«
Scalsi Augen waren fast schwarz vor Angst. Andrej war schon beinahe zu dem Schluss
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