Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
gekommen, dass er auch jetzt nicht antworten würde, doch dann sagte er: »Aber ich durfte nichts sagen. Sie hat gedroht, mich zu töten und jeden anderen in unserem Spital auch.«
»Und darum habt Ihr zugelassen, dass sie Menschen umbringen?«, fragte Andrej empört. Er wollte nicht darüber nachdenken, was Scalsis Worte wirklich bedeuteten.
»Aber das haben sie nicht!«, protestierte Scalsi. »Niemandem ist etwas angetan worden!«
Andrej blickte in das Grab hinab, und Scalsi fuhr leiser, aber jetzt verzweifelt fort: »Wir wussten nicht, was dort geschieht, das ist die Wahrheit!«
»Ich verstehe«, sagte Andrej verächtlich. »Ihr habt nur die Leiche weggebracht, nicht wahr?«
»Wir haben nichts zu verbergen!«, protestierte Scalsi. »Es war schrecklich, was passiert ist. Aber … es … es war genau so, wie ich es gesagt habe. Ein Unfall. Ich war von allen am meisten entsetzt, das müsst Ihr mir glauben!«
»Muss ich das?«, fragte Andrej angewidert.
»Ich sage die Wahrheit«, beharrte Scalsi, entweder mit dem Mut der Verzweiflung oder weil es tatsächlich so war. »Niemandem sollte je etwas geschehen. Ich wusste nicht, was in dieser Zelle vorgeht!«
»Und es hat Euch auch nicht interessiert?« Andrej hielt Scalsis Blick unerbittlich fest und suchte nach der Lüge darin, aber alles, was er spürte, war Verwirrung und eine so große Angst, dass sie alles andere auslöschte. Vielleicht war ganz tief darunter doch noch etwas anderes, aber er konnte es nicht greifen, und bereits im nächsten Moment war es auch schon wieder fort.
»Ihr werdet mir jetzt alles erzählen«, sagte er, »die ganze Geschichte, von Anfang an. Und es sollte die Wahrheit sein, Dottore, oder ich verspreche Euch, dass Ihr diese Insel nicht mehr verlassen werdet.«
Andrej fragte sich, was er tun würde, falls diese Drohung nichts bei Scalsi bewirkte. Er mochte den Mann nicht und hatte ihn nie gemocht, aber er konnte auch unmöglich Gewalt anwenden, um ihn zum Reden zu bringen. Zum einen war dies nicht seine Art, zum anderen war der Mann bereits so eingeschüchtert, dass sein Herz einfach stehen bleiben und er buchstäblich vor Angst sterben konnte, wenn er ihm noch weiter zusetzte.
»Es war genau so, wie ich es Euch und Eurem schwarzen Freund gesagt habe«, beharrte Scalsi. »Eure Freundin und ihre beiden Dienerinnen haben den Jungen zu mir gebracht und mir Geld gegeben und auch präzise Anweisungen, wie mit ihm zu verfahren sei, und ich habe mich streng daran gehalten. Danach sind sie gegangen.«
»Aber sie sind zurückgekommen.«
»Nicht oft«, beteuerte Scalsi. »Vielleicht einmal im Monat oder sogar seltener.«
»Um was zu tun?«
»Das weiß ich nicht. Sie waren unten bei Eurem Sohn. Vielleicht haben sie mit ihm gesprochen, vielleicht auch nicht. Niemand von uns war je dabei, auch ich nicht. Aber manchmal haben wir Laute aus den angrenzenden Zellen gehört.«
»Schreie«, vermutete Andrej, doch Scalsi schüttelte erschrocken den Kopf. »Laute. Seltsame Laute, vielleicht auch ein bisschen unheimlich, aber mehr nicht. Niemandem wurde Schaden zugefügt.«
»Und woher wollt Ihr das wissen, wenn Ihr nicht dabei
wart?«
»Weil ich sie gefragt habe. Wofür haltet Ihr mich, Signore Delãny? Ich bin Arzt.«
»Ihr habt wen gefragt?«
»Die Patienten in den angrenzenden Räumen. Sie haben mir versichert, dass in letzter Zeit niemand bei ihnen war!« Andrej zeigte auf das Grab. »Ihr wollt behaupten, Meruhe hätte diesen Mann getötet?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Scalsi. Seine Augen waren immer noch weit vor Angst, und seine Stimme bebte, aber dennoch war da zugleich auch eine neue Kraft darin, die Andrej davon überzeugte, dass er die Wahrheit sagte. Oder es wenigstens glaubte.
»Sie haben uns weggeschickt, wie auch zuvor. Aber danach war dieser arme Mann tot. Claudio sagt, er hätte einen Schrei gehört, aber ich weiß nicht, ob das stimmt.«
»Waren sie bei ihm?«
»Nein.« In Scalsis Stimme war jetzt Trotz zu hören. Er fand seine Fassung erstaunlich schnell wieder, fand Andrej. »Die Zelle war verschlossen, und es gibt nur einen einzigen Schlüssel.«
Eine verschlossene Tür würde Meruhe oder die beiden Kriegerinnen kaum daran hindern können, einen Raum zu betreten, dachte Andrej, und das auch ohne Spuren zu hinterlassen. Aber trotz dem, was er gerade erlebt und schmerzhaft genug am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte, weigerte er sich noch immer zu glauben, dass es sich so abgespielt hatte, wie der Arzt
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