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Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod

Titel: Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wlofgang Hohlbein
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behauptete. Er kannte Meruhe seit mehr als einem Jahrhundert und wusste nur zu gut, was für eine erbarmungslose Kriegerin sie sein konnte, wenn die Umstände es von ihr verlangten … aber eine Mörderin?
    Statt Scalsi mit einer weiteren Frage zuzusetzen, zog er seinen Dolch und schlitzte den Sack mit einer entschlossenen Bewegung auf. Der Leichnam, der darunter zum Vorschein kam, war in schmuddelige Fetzen gehüllt und fast zum Skelett abgemagert, aber das hatte er erwartet, nachdem er einen von Scalsis Patienten gesehen hatte.
    Was er nicht erwartet hatte, war der Anblick seines Gesichts. Oder dessen, was noch davon übrig war.
    Es war beileibe nicht der erste Tote, den er sah, und ganz gewiss auch nicht der erste gewaltsam ums Leben Gekommene, dennoch saß er ein paar Sekunden lang einfach nur da und sah in das verheerte Antlitz hinab. Er musste schon angestrengt überlegen, um sich daran zu erinnern, wann er das letzte Mal etwas Schrecklicheres gesehen hatte.
    Das Gesicht des Mannes war … verschwunden, eine bessere Beschreibung fiel ihm nicht ein. Wo die Augen sein sollten, starrten ihn leere Höhlen an, die mit braunen Seen aus geliertem Blut gefüllt waren. Die Nase war halb zerstört, als hätte jemand mit einem stumpfen Messer darauf eingehackt, und die Lippen zerfetzt, sodass der Mund zu einem ewigen Totenkopf-Grinsen erstarrt war. Hier und da schimmerte weißer Knochen durch die zerschundene Haut, und die Schlagader an seinem Hals war aufgerissen.
    »Er hat sich die Zunge abgebissen«, sagte Scalsi, »und dann versucht, sie hinunterzuschlucken. Daran ist er wohl erstickt.«
    »Wer hat ihm das angetan?«, murmelte Andrej schockiert.
    Statt zu antworten, machte Scalsi nur eine knappe Kopfbewegung, und Andrej beugte sich ein zweites Mal über den Toten und besah sich seine Hände.
    Sie waren so schmutzig und dürr wie die gesamte Gestalt, mit verschorfter Haut und abgebrochenen Fingernägeln, unter denen sich Haarreste gesammelt hatten und etwas, das Andrej erst für Schmutz hielt, bis er roch, dass es eingetrocknetes Blut war. Die Splitter der Nägel steckten im aufgerissenen Fleisch seiner Wangen.
    Andrej saß einfach da und starrte das unglaubliche Bild an.
    Scalsi ersparte es ihm, angemessene Worte zu finden, als er sagte: »Er hat sich das selbst angetan, Signore Delãny. Es ist meine Schuld. Ich wusste, dass dieser arme Mann eine Gefahr für sich selbst darstellte, und habe ihn in Ketten legen lassen. Aber nicht sicher genug.«
    »Damit konntet Ihr nicht rechnen«, antwortete Andrej. Sein Mund war so trocken, dass er ein paarmal schlucken musste, um zu sprechen. Was hatte Scalsi gerade gesagt? Der Mann hatte sich die Zunge abgebissen und war daran erstickt?
    »Aber das wäre meine Aufgabe gewesen«, antwortete Scalsi. »Ich wäre es ihm schuldig gewesen. Er … er hat sich selbst die Augen ausgerissen! Warum tut ein Mensch so etwas?«
    Weil er etwas sieht, das zu schrecklich ist, um seinen Anblick zu ertragen, dachte Andrej. Laut sagte er: »Sagt Ihr es mir, Dottore.«
    Scalsi hob nur die Schultern und beugte sich wieder über seinen verletzten Gehilfen, um irgendetwas an seinem Gesicht zu tun, was diesem vermutlich kein bisschen half, dem lauten Schluchzen nach zu schließen.
    »Sie haben verlangt, dass ich ihn hierherbringe. Und niemandem etwas sage. Auch Euch nicht.«
    »Ganz besonders mir nicht«, vermutete Andrej.
    Scalsi hob abermals die Schultern, hörte endlich auf, Claudio zu malträtieren, und sagte leiser und in verändertem Tonfall: »Wenn Ihr nicht gekommen wärt, dann hätten sie Claudio und mich auch getötet, nicht wahr?«
    Ganz bestimmt nicht, dachte Andrej beinahe empört. Aber dann wurde ihm klar, wie sich die Situation für Scalsi dargestellt haben mochte. Egal ob nun ein guter oder schlechter, er war Arzt, kein Krieger, und vermutlich erinnerte er sich vor allem an die Angst, die er in diesen wenigen Augenblicken ausgestanden hatte.
    »Wie kommt Ihr darauf?«, fragte er.
    »Die Frau«, antwortete Scalsi. »Die, die vor Euch geflohen ist … sie hat Claudio angewiesen, das Grab tief auszuheben. Viel tiefer als notwendig. Ich habe mir nichts dabei gedacht, aber …« Er atmete hörbar ein und zwang sich, Andrej fest anzusehen. »Es war für Claudio und mich gedacht, habe ich recht?«
    Andrej bezweifelte das, und sei es nur, weil er sich immer noch weigerte zu glauben, dass Meruhe zu einer solchen Handlungsweise fähig war. Seine Antwort bestand trotzdem nur aus einem

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