Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
Schulterzucken.
»Werdet Ihr mir helfen?«, fragte Scalsi.
»Sobald die Sonne aufgeht, kommen Abu Dun und ich zu Euch und holen Marius ab«, versprach er. Falls er Abu Dun bis dahin wiedergefunden hatte. Und falls sie bis dahin noch am Leben waren. Denn sie alle waren in Gefahr, das spürte er ganz deutlich.
»Mehr kann ich wohl nicht erwarten«, sagte Scalsi. »Ich hätte Euch von Anfang an die Wahrheit sagen sollen. Es tut mir leid.«
Um nicht antworten zu müssen, steckte Andrej umständlich den Dolch ein und schloss den zerschnittenen Sack, so gut es ging, wieder über dem Toten. Als er damit begann, mit den bloßen Händen Erde auf den Leichnam zu schaufeln, gesellte sich Scalsi wortlos zu ihm. Sie bedeckten den Toten mit einer dünnen Erdschicht, bevor sie den Leichnam des Mannes dazulegten, den Abu Dun am Morgen erschlagen hatte.
Wenig zufrieden betrachtete Andrej das Ergebnis, aber er tröstete sich damit, dass dies schließlich der Armenfriedhof war und hier wohl niemand unnötige Fragen stellen würde.
Und außerdem konnte es ihm vollkommen gleich sein, ob die Schändung entdeckt wurde.
Als sich Scalsi zu Claudio hinab beugte und unbeholfen versuchte, ihn auf die Beine zu ziehen, steigerte sich das Schluchzen des armen Burschen zu einem gepeinigten Heulen, das noch am anderen Ende der Lagune zu hören sein musste. Aber nicht nur aus diesem Grund griff Andrej rasch zu, legte sich den Arm des Mannes um die Schultern, berührte mit der freien Hand den Nervenknoten in seinem Nacken und drückte rasch zu. Claudio verdrehte erleichtert seufzend die Augen und erschlaffte in seinem Griff.
»Keine Angst«, sagte Andrej schnell, und noch bevor Scalsi wirklich erschrecken konnte. »Er ist nur bewusstlos. So hat er wenigstens keine Schmerzen.« Wenn auch nur im Moment. Die nächsten Wochen – wenn nicht Monate – würden die Hölle für den armen Kerl werden, sofern er sie überhaupt überlebte, und Andrejs schlechtes Gewissen meldete sich nun mit Nachdruck. Schließlich war er es gewesen, der diesem armen Kerl den Kiefer gebrochen hatte.
»Ich trage ihn«, sagte er. »Und ich zeige Euch auch, wie Ihr seine Wunde versorgen müsst, um ihm das Schlimmste zu ersparen. Wir nehmen mein Boot.«
»Ihr seid mit einem Boot hier?«, erwiderte Scalsi.
Nein, ich bin geschwommen … oder wie der Sohn Eures Gottes über das Wasser gewandelt, hätte Andrej um ein Haar laut gesagt, doch er wusste, dass Scalsi unter Schock stand. Vermutlich hatte er im Augenblick Mühe, sich an seinen eigenen Namen zu erinnern.
»Ja«, sagte er. »Und ich bin auch nicht allein. Corinna ist bei mir.«
»Die Contessa?« Scalsi wirkte ein bisschen entsetzt. »Sie ist hier? Wo?«
»Sie … ähm … wartet in der Kapelle auf mich«, antwortete Andrej. Er versuchte, Claudios Gewicht auf seiner Schulter zu verlagern, und lud sich den großen Burschen schließlich einfach auf die Arme. Scalsi staunte noch mehr, als ihm Andrejs Kraft bewusst wurde. Aber das war ihm mittlerweile gleich. Was immer der Arzt auch später über die Ereignisse dieser Nacht erzählen mochte … wer würde ihm schon glauben?
Bevor Scalsi noch eine weitere Frage stellen konnte, setzte Andrej sich in Bewegung und ging schnell genug voraus, dass der Dottore gerade noch mit ihm Schritt halten konnte.
Corinnas Stimme war schon von Weitem zu hören. Andrej ging unwillkürlich schneller, sodass der Arzt nun tatsächlich zurückfiel und erst wieder zu ihm aufschloss, als er den bewusstlosen Claudio vorsichtig ins Gras neben die verkeilte Tür legte. Sein schlechtes Gewissen meldete sich erneut und nunmehr unüberhörbar, als ihm klar wurde, in welche Gefahr er Corinna gebracht hatte, allein weil er sie auf diese Insel mitgenommen hatte. Rasch öffnete er die Tür, trat vorsichtshalber einen Schritt zurück und wurde von Corinna erwartungsgemäß mit einem Schwall wüster Beschimpfungen und Vorwürfe empfangen, der dann jedoch mitten im Wort abbrach, als sie die reglose Gestalt zu seinen Füßen bemerkte und im gleichen Augenblick wohl auch das Blut auf seinen Kleidern und Händen.
»Heilige Jungfrau Maria, was ist passiert?«, fragte sie, ließ sich rasch in die Hocke sinken und streckte die Hand nach Claudio aus. Andrej hielt sie mit einem fast erschrockenen Griff zurück, was ihm einen zornigen Blick einbrachte, aber noch bevor sie ihm weitere Vorwürfe machen konnte, mischte sich Scalsi ein:
»Ein Unfall, Contessa. Ein schreckliches Unglück. Er ist verletzt, aber es
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