Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
nicht, aber so genau habe ich sie mir auch nicht angesehen«, antwortete Corinna. »Eine Ratte eben.«
»Und du hast sie angelockt?«, hakte Andrej nach.
»Wie hätte ich das denn machen sollen?«, fragte Corinna ein wenig verletzt, aber auch schon wieder gewohnt schnippisch. »Aber wenn es dich beruhigt: Ich hatte früher selbst eine Ratte als Spielgefährtin. Vielleicht hat sie das ja gemerkt.«
»Eine Ratte?«
»Du meinst sicher ein Schmusekätzchen passt besser zu mir, nehme ich an«, sagte Corinna spöttisch. »Oder ein kleiner süßer Schoßhund mit einer Schleife im Haar?«
»Eigentlich nicht«, antwortete Andrej, und Corinnas Augen schossen kleine spitze Pfeile in seine Richtung.
»Ratten sind sehr gelehrige Tiere«, sagte sie. »Ich kenne sie gut genug, und irgendwie beruht das auf Gegenseitigkeit. Bin ich jetzt rehabilitiert, oder übergebt Ihr mich der Inquisition, Signore Delãny?«
»Immerhin müsste ich dafür nur meine Stimme heben«, antwortete er mit einer Kopfbewegung nach vorn und einem leicht verunglückten Lächeln.
Corinna erwiderte es, aber auch sie wirkte nicht überzeugt. Erst als sie sich dem unteren Ende der Treppe näherten und Rezzori und Schwester Innozenz auf den Hof hinaustraten, fuhr sie fort: »Warum fragst du?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Andrej, was sogar der Wahrheit entsprach. »Noch nicht. Aber ich bin froh, dass sie dich nicht gebissen hat. Du hast Glück gehabt. Pass in Zukunft ein bisschen auf, in welche Löcher du deine Finger steckst.«
»Signore Delãny, ich bin empört!«, feixte Corinna.
»Ich meine es ernst«, beharrte Andrej. »Du weißt nicht, womit du es hier zu tun hast.«
»Aber du?«, fragte Corinna. Andrej nickte. »Dann sag es mir.«
»Später«, antwortete Andrej. Vielleicht.
Kapitel 21
Zwei Schritte hinter Rezzori traten sie auf den Innenhof hinaus. Das helle Tageslicht und die wärmenden Strahlen der Sonne hätten den Druck von seiner Seele nehmen sollen, doch er fühlte sich immer noch wie unter einem unsichtbaren klebrigen Netz gefangen. Nun konnte ihn die Spinne umso besser sehen.
Fünf oder sechs von Rezzoris Männern hatten sich bereits wieder auf dem Hof versammelt, und ein weiterer hielt in dem eingeschlagenen Tor Wache. Rezzori selbst hatte Schwester Innozenz der Obhut eines seiner Signori übergeben und redete mit leiser, aber schneidender Stimme auf Scalsi ein. Er hielt noch immer das Rapier in der Hand, dessen rasiermesserscharfe Klinge er fest genug gegen die Halsschlagader des Arztes presste, dass ein dünnes rotes Rinnsal unter dem mit Rüschen besetzten Kragen Scalsis versickerte.
Vielleicht war es dieser Anblick, der Andrej endlich klarmachte, was mit dem Arzt nicht stimmte.
Scalsi war nicht mehr Scalsi.
Natürlich war es noch derselbe Mann – aber der Scalsi, den er kennengelernt hatte, war vielleicht ein selbstgerechter Despot gewesen, aber auch ein erbärmlicher Feigling, wie Andrej spätestens auf der Friedhofsinsel klar geworden war, ein Mann ohne jegliches Selbstbewusstsein. Nichts davon war dem Mann, dem er nun gegenüberstand, anzumerken. Er hatte zwar den Kopf auf die Seite gelegt, damit Rezzori ihm mit seiner Waffe nicht aus Versehen die Halsschlagader durchschnitt, aber in seinen kalten Augen war nicht einmal ein Hauch von Angst zu erkennen.
»Was habt Ihr mit diesen armen Menschen hier gemacht, Dottore?«, fragte Rezzori. »Ich rate Euch zu antworten, und es sollte besser eine Antwort sein, die mich zufriedenstellt!«
»Ihr würdet es sowieso nicht verstehen«, erwiderte Scalsi verächtlich. »Manche Dinge müssen getan werden, so einfach ist das.« Seine Lippen zuckten, weil Rezzoris Klinge ihm vermutlich sehr wehtat und er Schmerzen einfach nicht gewohnt war, aber in seinen Augen zeigte sich keine Regung. Er hatte keine Angst. Vielleicht war er gar nicht mehr in der Lage, ein solches Gefühl zu empfinden.
»Ihr werdet mir antworten, Dottore«, versprach Rezzori grimmig. »Die Frage ist nur, wie unangenehm es für Euch wird.«
Rasch trat Andrej neben Rezzori und legte ihm (sehr vorsichtig) die Hand auf die Schulter. Rezzori funkelte ihn an, und Andrej konnte in seinen Augen lesen, dass seine Frist ablief. Der Signori hatte sich seiner angeborenen Autorität zuerst ganz instinktiv untergeordnet, aber je mehr Zeit verstrich, ohne dass etwas passierte, desto mehr verlor dieser Reflex an Kraft, und der alte Rezzori kam wieder zum Vorschein, und damit der Herr der Signori di Notte. Andrej fragte sich
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