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Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod

Titel: Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wlofgang Hohlbein
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gesucht, und ich hätte dir verziehen, hättest du mich nur erkannt. Ich wollte so sehr, dass du zurückkommst und mich holst. Aber das hast du nicht getan. Du hast dir einen anderen Sohn gesucht. »Ich wusste es damals nicht«, fuhr er fort, wohl wissend, dass die Worte nicht nur in seinen Ohren wie eine billige Entschuldigung klingen mussten. »Ich glaube, etwas von ihm ist zurückgeblieben. Ein Teil von ihm muss gespürt haben, wie …« Seine Stimme versagte. Corinna nickte mitfühlend und legte ihm sanft die Hand auf den Unterarm, eine Hand, die sich so schmal und zerbrechlich anfühlte wie die eines kleinen Jungen, der vergeblich auf seinen Schutz vertraut hatte.
    Andrej zog den Arm mit einem Ruck zurück und konnte nicht anders, als den Abstand zwischen ihnen um einen Schritt zu vergrößern. Corinna sah verletzt aus, aber an dem Ausdruck tiefen Mitgefühls in ihrem Blick änderte sich nichts. »Du konntest es nicht wissen«, sagte sie.
    Das entsprach vielleicht der Wahrheit, aber es machte es nicht besser. All die Jahre, Vater. All diese unendlichen Jahre, die Monate und Wochen und Tage und Stunden. Wie lange brauchte der Körper eines Kindes, um weit genug zu verfallen, bis sein verrottetes Fleisch die Seele endgültig freigab?
    »Es tut mir so unendlich leid, Andrej«, sagte Corinna, jetzt wieder auf Italienisch und mit etwas lauterer, festerer Stimme. »Wenn es nur etwas gäbe, das ich für dich tun könnte.«
    »Vielleicht kannst du das«, antwortete er leise. »Wenn das hier vorbei ist und ich es überlebe … vielleicht erlaubst du mir, doch noch eine Weile bei dir zu bleiben.«
    »Eine Weile?«, wiederholte Corinna überrascht, aber auch darum bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie diese Worte freuten.
    »Nicht sehr lange. Vielleicht fünfzig Jahre oder sechzig …« Er zwang sich zu einem leisen, aber ehrlich klingenden Lachen, stupste ihr spielerisch mit dem Zeigefinger auf die Nase und fügte augenzwinkernd hinzu: »So lange, bis du eine faltige alte Frau geworden bist und ich deiner überdrüssig werde.«
    Und er meinte es ernst. Er wusste nicht, was die Zukunft, nicht einmal, was die nächste Stunde bringen würde, und neben allem anderen war da noch immer die tiefe Sorge um Abu Dun, von dem noch immer jede Spur fehlte – und doch: Es wäre nicht das erste Mal, dass sich ihre Wege für eine Weile trennten und sie sich wenigstens der Illusion von ein wenig Glück und Normalität hingaben.
    Corinnas Augen leuchteten in stiller Freude, als hätte sie seine Gedanken gelesen, und in einem einzigen, zeitlosen Augenblick begriff Andrej gleich dreierlei: Wie sehr er sie liebte. Dass er nicht nur nicht wusste, was die nächste Stunde bringen würde, sondern dass dies sogar für die nächste Sekunde galt. Und dass sich Rezzori geirrt hatte, was Abu Dun anging: Der Nubier konnte sehr wohl fliegen.
    Jedenfalls sah es so aus, im allerersten Moment. Andrej spürte die Gefahr einen Sekundenbruchteil, bevor er ihn sah, dennoch kam selbst sein warnender Schrei zu spät. Abu Dun tauchte nicht etwa am Ende der schmalen Gasse auf oder stürzte plötzlich aus einer Tür, sondern wuchs wie ein kolossaler schwarzer Schatten über einem Dach empor und sprang dann ohne das mindeste Zögern die gut zwanzig Fuß herab. Sein schwarzer Mantel bauschte sich wie ein bizarres Flügelpaar, und Andrej wusste zwar, dass es unmöglich war, meinte aber dennoch zu spüren, wie die gesamte Straße unter seinem Aufprall erzitterte. Erst dann ertönte der erste überraschte Aufschrei. Andrej begriff nicht einmal, dass er seiner eigenen Kehle entsprang.
    Alles ging so schnell, dass der erste von Rezzoris Signori bereits von einem Fausthieb Abu Duns getroffen zu Boden sank, noch bevor die anderen erschrocken auseinanderspritzten und ihre Waffen zogen. Einzig Rezzori selbst war geistesgegenwärtig genug, seine Pistole abzufeuern, verfehlte in seiner Hast sein Ziel aber hoffnungslos. Die Kugel schlug mindestens drei Manneslängen neben dem Angreifer Putz und Holzsplitter aus der Wand, und Abu Dun fuhr mit einem zornigen Knurren herum und hob die Arme, um sich auf ihn zu stürzen. Rezzori war auch dieses Mal geistesgegenwärtig genug, ihm die nutzlos gewordene Waffe ins Gesicht zu schleudern, was den Nubier zwar keinen Deut langsamer werden ließ, ihn aber immerhin weit genug aus dem Konzept brachte, dass seine Hände den Signori verfehlten. Statt Rezzori das Genick zu brechen (oder ihm wortwörtlich den Kopf abzureißen, wozu

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