Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
an, möglichst unauffällig zu bleiben und nach Möglichkeit in der Menge zu verschwinden, statt sie auseinanderzusprengen.
Sie waren noch ein gutes Stück von Corinnas Palazzo entfernt – eine halbe Meile mindestens und noch dazu auf der falschen Seite des Kanals –, aber Andrej war dennoch froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben – auch wenn er sich ihn für seinen Geschmack mit entschieden zu vielen Menschen teilen musste.
Die Einwohnerzahl der Stadt schien sich seit gestern verdoppelt zu haben. Wein und Schnaps flossen schon jetzt in Strömen. Immer wieder wurden sie angerempelt oder von ausgelassenen (und betrunkenen) Menschen aufgefordert, mit ihnen zu feiern. Nach kurzer Zeit beschloss Andrej, die anzüglichen Blicke und Bemerkungen zu ignorieren, die Corinna zugeworfen und zugerufen wurden.
Die Contessa schienen sie nicht zu stören. Wäre er nicht bei ihr gewesen und hätte mit seiner finsteren Erscheinung und in seinen zerfetzten und blutbesudelten Kleidern nicht die dreistesten Grobiane auf Abstand gehalten, hätte sie vermutlich noch mehr und noch zotigere Bemerkungen (und vielleicht Schlimmeres) erdulden müssen.
In der immer noch dichter werdenden Menschenmenge hatte er Mühe, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Corinna war zwar gerade mal so groß wie ein Kind, schlängelte sich aber vielleicht gerade deshalb mit beinahe übernatürlich anmutendem Geschick durch die Menge, und auch jetzt wieder mit derselben Anmut und Grazie, die er von der allerersten Sekunde an an ihr bewundert hatte.
So mühelos, wie sie zwischen den Männern und Frauen hindurchschlüpfte, so wenig Rücksicht nahm er und bahnte sich mit finsterer Miene und seiner überlegenen Kraft den Weg, um nicht noch weiter zurückzufallen. Als sie schließlich auf einen Platz von enormen Abmessungen hinaustraten, begriff er erstaunt, wo sie waren.
»Der Markusplatz?«, murmelte er. »Hältst du das für klug?«
»Wegen der vielen Menschen?« Er hatte leise gesprochen, und Corinna war gute fünf oder sechs Schritte vor ihm, aber sie schien ein außergewöhnlich scharfes Gehör zu haben. »Wo würdest du einen Baum verstecken, Unsterblicher? In einem finsteren Loch oder mitten im Wald?«
Es war das erste Mal, dass sie ihn so nannte, und Andrej war nicht sicher, ob es ihm gefiel.
Doch er nickte nur, und Corinna maß ihn mit einem gehetzten Blick und setzte ihren Weg dann noch schneller fort, sodass er beinahe den Anschluss verlor. Gleich darauf wurde sie jedoch wieder langsamer, als sie eine Ansammlung hübscher kleiner Tische und geflochtener Stühle unter einem gestreiften Baldachin ansteuerte, der aus einem der prachtvollen Gebäude herauswuchs, die den Platz an zwei Seiten flankierten. An einer dritten Seite erhob sich ein anderes, ungleich pompöseres Bauwerk mit zahllosen Säulen und einer gewaltigen Kuppel, das leicht mit den prachtvollen Sakralbauten Roms oder Konstantinopels mithalten konnte.
Kaum hatte Corinna einen der an die Tische gelehnten Stühle aufgestellt und darauf Platz genommen, als die Tür hinter ihr aufflog und ein dicklicher Mann in einer speckigen Lederschürze heftig gestikulierend auf sie zueilte.
»Heda, was soll das?«, polterte er. »Bist du blind? Wir öffnen erst heute Abend, oder warum glaubst du, sind die Stühle noch hochge …?«
Er brach mitten im Wort ab. Andrej, der genau in diesem Moment hinter Corinna getreten war, fragte sich, ob er sich von seiner alles andere als Vertrauen erweckenden Erscheinung aus dem Konzept hatte bringen lassen.
Aber so war es nicht. Der Wirt – eine weniger schmuddelige Kopie seines eigenen Zimmerwirtes – blickte ihn nicht einmal an. Überraschung malte sich auf seinem Gesicht, das sich dann aber schlagartig aufhellte. »Contessa!«, rief er. »Aber das muss ja eine Ewigkeit her sein! Was für eine Freude, Euch wiederzusehen! Nach so langer Zeit! Und ich dachte schon, ich hätte Euch etwas getan!«
Etwas an seinen Worten ließ Andrej aufhorchen. Es war, als wollten sie ihn an etwas erinnern … doch er bekam es nicht zu fassen, wie einen glitschigen Fisch, der durch seine Finger schlüpfte, ganz egal wie fest er auch zuzupacken versuchte.
»Mario«, antwortete Corinna in ebenso erfreutem Ton. »Ich muss mich entschuldigen! Asche auf mein Haupt, dass ich so lange nicht hier war, aber Ihr wisst ja, wie es ist. Manchmal weiß man vor lauter Verpflichtungen nicht mehr, wo einem der Kopf steht. Aber nun bin ich ja hier, und ich verspreche, dass es
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