Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
eisigen Schauer über den Rücken laufen.
Dann erschauerte er noch einmal, sogar heftiger, als ihm klar wurde, was er da gerade gedacht hatte. Ein Wesen wie er … Betrachtete er Abu Dun jetzt schon als Feind?
»Er hat ihn einfach so umgebracht«, murmelte Corinna wieder. »Warum? Er wollte mich doch bloß verteidigen.« Ihre Stimme wurde leiser, und obwohl sie ihre Züge vollkommen in der Gewalt hatte, spürte er, wie nahe sie daran war, endgültig die Fassung zu verlieren und in Tränen auszubrechen. Vielleicht wäre es besser so.
»Er hat seine Pflicht getan«, sagte Andrej leise. »Er war dein Leibwächter.« Das klang billig, sogar in seinen eigenen Ohren. Aber was sollte er sonst sagen?
»Er hätte nicht so sterben müssen«, antwortete Corinna prompt. »Er war ein guter Mann. Er war mein Freund, Andrej. Der einzige, den ich hatte.«
»Ich weiß«, antwortete Andrej. »Und er hat seine Aufgabe erfüllt. Glaubst du, er hätte es sich verziehen, wenn Abu Dun dich getötet hätte?« Kaum hatte er den Satz beendet, wusste er, dass auch das kein Trost war. Er fühlte sich hilflos. Andrej war nie ein Mann vieler Worte gewesen, aber er hatte auch nie Probleme damit gehabt, sich auszudrücken. Jetzt wollten die Worte einfach nicht kommen.
Corinna sah ihn noch einen endlosen Moment lang auf dieselbe herzerweichende Art an, dann gab sie sich sichtlich einen Ruck, zwang sich zu einem traurigen Lächeln und wechselte sowohl das Thema als auch die Art zu sprechen. »Wir brauchen ein Versteck«, sagte sie. »Wenigstens bis es dunkel wird. Zurück in unseren Palazzo …«
»… können wir nicht, ich weiß«, unterbrach sie Andrej. »Sie wissen davon.«
»Nein, dort würde Rezzori zuallererst nach dir suchen«, wandte Corinna ein.
Falls er noch lebte, was Andrej bezweifelte. Aber er verbot es sich, diese Worte auszusprechen. »Rezzori?«, wiederholte er nur. »Warum meinst du, dass er nach mir suchen sollte? Sind wir denn jetzt nicht gute Freunde?«
Corinna sah ihn an, als zweifelte sie an seinem Verstand. »Du hast keine Ahnung, wer die Signori di Notte sind, habe ich recht?«
Andrej sagte gar nichts dazu, doch das schien ihr als Antwort zu genügen. »Du warst noch nie in Venedig, nicht wahr? Und du hast auch noch nie von den Signori di Notte gehört, nehme ich an. Sei froh.«
»Sie sind so eine Art … Polizei?«
»Die schlimmste überhaupt«, bestätigte Corinna. »Jeder fürchtet sie, selbst der Doge. Sie brauchen keinen Grund, um jemanden festzunehmen, und keinen Richter, um dich für immer in ihren Kerkern verschwinden zu lassen. Ich musste alle Beziehungen meiner Familie spielen lassen und jeden alten Gefallen einfordern, an den ich mich erinnern konnte, nur damit er dich freigelassen hat. Ein zweites Mal wird er dich nicht gehen lassen.« Sie stieß heftig die Luft durch die Nase aus. »Ich kann wahrscheinlich von Glück sagen, wenn er mich nicht auch noch verhaftet.«
»Das tut mir leid«, sagte Andrej. »Das Letzte, was ich wollte, war, dir Schwierigkeiten zu bereiten.«
Corinna machte eine wegwerfende Geste. »Das hast du nicht. Im Gegenteil.«
»Im Gegenteil? Was soll das heißen?«
Doch Corinna drehte nur den Kopf, um nachdenklich eine Weile in die Richtung zurückzublicken, aus der sie gekommen waren. Dann sagte sie: »Ich weiß einen Ort, wo wir uns verstecken können. Aber wir müssen bis nach Sonnenuntergang warten, um dorthin zu kommen.«
»Ich kann uns so lange noch ein bisschen herumrudern«, sagte Andrej säuerlich.
»Ein verlockendes Angebot«, sagte Corinna. »Aber ich glaube, ich weiß etwas Besseres.«
Kapitel 23
Auch wenn Corinna behauptete, dass der Carnevale offiziell erst nach Sonnenuntergang dieses Tages begann, sah Andrej auf dem Weg zurück in die Stadt bereits jetzt viele ausgelassen feiernde Menschen, und auch die Kanäle schienen dem Ansturm der zahllosen Gondeln kaum noch gewachsen zu sein. Zum ersten Mal, seit sie in dieser Stadt angekommen waren, wurde Andrej Zeuge einer Kollision zwischen zwei der schlanken Boote, die zwar ohne größere Schäden abging, aber einen mit typisch südländischem Temperament zelebrierten Streit auslöste, der noch im angrenzenden Viertel zu hören sein musste.
Schließlich kamen sie mit dem großen Ruderboot nicht mehr von der Stelle. Das Boot war schwer (und Andrej durchaus kräftig) genug, die schlanken Gondeln einfach aus dem Weg zu schieben – oder bei Bedarf auch in zwei Teile zu rammen –, aber es kam ihm schließlich darauf
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