Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
störrischen Kind den Hintern zu versohlen und es in Marios Obhut zu geben, aber die Stimme war viel zu leise – außerdem sagte sie ihm zugleich, dass es sowieso sinnlos gewesen wäre. Und da war noch etwas. Etwas, das sie gerade gesagt hatte. Es mochte Zufall sein, aber vielleicht auch nicht.
Möglicherweise gab es ja noch einen anderen Grund, warum er sich so zu ihr hingezogen fühlte, einen Grund, an den er bisher noch nicht einmal gedacht hatte …
Wortlos drehte er sich um und marschierte los. Corinna ging so dicht neben ihm, dass er aufpassen musste, um sie nicht anzurempeln. Schatten tauchten aus dem Dunkel auf und verschwanden wieder, bevor sein Blick sie wirklich erfassen konnte. Das Echo ihrer Schritte klang sonderbar in seinen Ohren. Schon nach ein paar Augenblicken blieb er stehen, um den Docht der Sturmlaterne ein Stück weiter herauszudrehen, und das Licht wurde auch um etliches heller, schien aber seltsamerweise dennoch nicht weiter zu reichen, geradeso als lauere da etwas in den Schatten, das es auffraß.
Noch vor einer Stunde hätte er diesen Gedanken lachend abgetan. Jetzt ließ er ihn nicht los, hartnäckig wie ein dünner Dorn, den man sich an einer Stelle eingerissen hat, die nicht zu erreichen ist.
»Ich kann verstehen, dass du es nicht gewagt hast, hier herunterzukommen«, sagte er. Als seine Schritte plötzlich matschig klangen, senkte er die Fackel ein wenig und sah, dass sie nicht auf Stein liefen, wie er ganz selbstverständlich angenommen hatten, sondern auf etwas, das wie feuchter Lehm aussah und faul roch. Hier und da hatten sich Pfützen gebildet, die beinahe noch schlechter rochen.
»Was ist das hier überhaupt?«, fragte er mit unbehaglich klingender, leiser Stimme.
»Auf irgendetwas muss die Stadt ja schließlich stehen, oder hast du gedacht, wir hätten sie auf Wasser gebaut?«, fragte Corinna. »Das ist der Zattaron. An den meisten Stellen ist er niedriger, sodass du nur darin kriechen kannst oder nicht einmal das, aber manche Keller sind auch noch höher.« Sie sah sich demonstrativ schaudernd um. »Die Leute erzählen sich die unheimlichsten Geschichten darüber, von Geistern oder seltsamen Kreaturen, die hier unten ihr Unwesen treiben sollen. Wenn man hier ist, kann man es beinahe verstehen.«
»Es gibt keine Geister«, sagte Andrej.
»Und keine sonderbaren Kreaturen.« Corinna warf ihm einen seltsamen Blick zu, und Andrej zog es vor, das Thema nicht zu vertiefen.
Beinahe trotzig hob er die Lampe noch ein Stück höher und glaubte abermals, eine Bewegung zu sehen. Doch auch jetzt kam er wieder zu dem Schluss, dass sie einzig seiner Fantasie entsprang. Dennoch blieb er aufs Äußerste angespannt. Er sah mannshohe, feucht schimmernde Säulen, die die nasse Decke aus verquollenen Bohlen stützten, und hier und da glaubte er moderndes Mauerwerk zu erkennen.
»Und ich dachte, die ganze Stadt wäre auf Pfählen gebaut«, sagte er, nicht aus echtem Interesse, sondern um der unheimlichen Stille ihren Biss zu nehmen – und vielleicht auch, um das körperlose Flüstern zu übertönen, das mit der Dunkelheit herankroch.
Corinna stampfte im Gehen mit dem Fuß auf. »Manche von ihnen sind zehn Meter lang oder noch mehr. Niemand hat sie je gezählt, aber es müssen viele Millionen sein. Manche behaupten, sie hätten halb Istrien abgeholzt, um die Fundamente der Stadt zu errichten, und wahrscheinlich stimmt das sogar. Aber ich finde es trotzdem unheimlich. Es hat etwas von einem Grab, wenn du mich fragst. Man hat das Gefühl, lebendig begraben zu sein, und …«
Sie stockte, sah für einen Augenblick betroffen aus und versuchte sich dann in ein nervöses Lächeln zu retten. »Oh, bitte verzeih«, sagte sie. »Das war taktlos von mir.«
»Zweifellos«, sagte Andrej. Der Wald aus Stützpfeilern und Balken, die die verquollene Decke trugen, wurde nun so dicht, dass sie nicht mehr nebeneinander gehen konnten. Er spürte einen eisigen Hauch, der mühelos durch seine Kleider drang und ihn bis ins Mark erschauern ließ, und glaubte, ein Lachen zu hören, leise und unendlich böse.
»Wirklich, das war taktlos von mir«, sagte Corinna. »Ich hätte das nicht sagen sollen. Manchmal bin ich einfach unmöglich. Es tut mir unendlich leid.«
Sie plapperte nur drauflos, um die Angst zu bekämpfen, dachte er – und schämte sich sofort seiner Gedanken. Wenn ihm diese unheimliche Umgebung schon Angst machte, wie musste sie sich erst fühlen?
Zeit war bedeutungslos hier unten, und die Furcht
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