Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
war ihr ständiger Begleiter. Andrej versuchte schon bald nicht mehr, die unheimlichen Schatten zu erkennen, die ihnen folgten, sondern ignorierte sie, so gut er konnte (was nicht besonders gut war). Er konzentrierte sich im Übrigen darauf, Marios Anweisungen zu folgen und sich links zu halten, wo immer er sich entscheiden musste. Dann und wann versperrte ihnen eine Wand aus uralten Ziegelsteinen den Weg, oder das Gewirr hölzerner oder auch gemauerter Stützpfeiler wurde so dicht, dass es kein Durchkommen mehr gab. Er passierte Abzweigungen und Kreuzungen und ein halbes Dutzend gemauerter Torbögen, von denen einige so niedrig waren, dass selbst Corinna sich bücken musste. Wie viel Zeit verging, bis sie endlich vor einer weiteren schmalen Treppe standen, konnte er nicht sagen. Wahrscheinlich nur Minuten, aber ihm waren sie vorgekommen wie die Ewigkeit.
»Und jetzt?«, fragte Corinna, als er die Lampe hob und versuchte, den blassen Schein bis auf die oberste Stufe zu lenken. Es gelang ihm nicht. Wo er eine weitere hölzerne Klappe vermutet hatte, erhoben sich nur gemauerte Stufen. Der Schacht war höher, als er erwartet hatte.
»Wenn Mario die Wahrheit gesagt hat, dann sind wir jetzt auf der anderen Seite des Platzes«, antwortete er unbehaglich.
»Wenn ich die Zeichen meines Bruders richtig deute, dann ist es von hier aus nicht mehr weit bis zu unserem Palazzo«, fügte Corinna hinzu. Sie machte eine Kopfbewegung nach rechts, fort von der Treppe. »Ich müsste mich doch sehr täuschen, wenn er nicht in dieser Richtung liegt, und nicht mehr besonders weit.« Sie sah ihn gleichermaßen auffordernd wie fragend an. »Hier sieht uns auf jeden Fall niemand.«
Niemand außer den Gespenstern, die diesen Ort bewohnten, dachte Andrej, aber er dachte auch an die eindringliche Warnung des Wirtes und Corinnas Worte von vorhin.
»Und wenn wir uns hier unten verirren?«
»Dann finden wir nie wieder heraus«, antwortete Corinna. »Aber so schlimm ist das nicht. Sobald die Flut kommt, steht das alles hier sowieso unter Wasser, und wir ertrinken.«
»Und das sagst du mir jetzt schon?« Andrej hörte selbst den leicht hysterischen Ton in seiner Stimme.
Corinna lachte jedoch. »Man könnte meinen, du hättest Angst vor der Dunkelheit, mein großer Held«, spöttelte sie. »Oder gar vor dem Ertrinken. Dabei kannst du doch gar nicht sterben.«
»Das habe ich nie behauptet. Ich bin schon unzählige Male gestorben. Wir bleiben nur nicht tot.«
Corinna sah einen Atemzug lang regelrecht erschrocken aus, aber dann zuckte sie nur die Schultern und setzte sich in die Richtung in Bewegung, in die sie gerade gedeutet hatte. Andrej zögerte, bevor er ihr folgte, und er hatte dabei das Gefühl, einen schweren Fehler zu begehen. »Bist du schon einmal ertrunken?«, fragte Corinna plötzlich. »Man sagt ja, es wäre eine sehr angenehme Art des Sterbens.«
»Das ist es nicht«, antwortete Andrej kurz angebunden.
»Du meinst, all die dummen jungen Dinger, die ins Wasser gehen, um ihrem Leben ein Ende zu setzen, erleben eine ziemlich böse Überraschung?«, kicherte Corinna. »Wie schade.«
»Keine Art zu sterben ist angenehm«, erwiderte Andrej. Warum musste sie vom Tod sprechen, ausgerechnet hier?
»Und das Aufwachen? Ist es so, als ob man geschlafen hat und dann die Augen wieder aufschlägt? Und erinnert man sich an das, was dazwischen passiert ist?«
Andrej schwieg lieber, denn sonst hätte er sie nur angefahren. Dies war kein Ort, um über den Tod zu sprechen.
Corinna plapperte jedoch munter weiter. »Was ist auf der anderen Seite? Ich meine, wie ist es, tot zu sein?«
»Kalt«, antwortete Andrej. »Und dunkel. Und sehr einsam.«
»Also ungefähr so wie hier«, stellte Corinna fest, und das war beinahe mehr, als er ertragen konnte. Er wollte das nicht hören, nicht hier. Plötzlich musste er sich der absurden Vorstellung erwehren, die Wände kämen näher, würden sie beide umschließen, wie in einem Grab. »Irgendwann werde ich es erfahren, nicht wahr?«, fuhr Corinna fort. »Ich bin schon ganz neugierig. Aber ich habe auch ein bisschen Angst. Du wirst mir doch helfen, nicht? Ich meine, beim ersten Mal. Du zeigst mir, wie man es macht.«
Sie war offenbar immer noch fest davon überzeugt, dass er sie zu einer Unsterblichen machen würde, begriff Andrej. Er hatte ihr gesagt, dass er das weder konnte noch wollte, was Corinna aber in ihrer kindlichen Art einfach ignorierte.
Andrej lauschte in sich hinein, und er war nicht einmal
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