Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
wollte Corinna wissen.
»Was tust du hier?«, fragte Andrej noch einmal.
»Ich glaube, du bist wirklich ein Hexenmeister. Du musst in die Zukunft blicken können. Genau dieselbe Frage wollte ich dir nämlich auch gerade stellen. Ist das nicht seltsam?«
»Du kannst mich nicht begleiten«, antwortete Andrej. »Hast du immer noch nicht begriffen, dass du in Gefahr bist, solange ich in deiner Nähe bin?«
»Hast du jetzt dein Sprüchlein aufgesagt, Unsterblicher?«, erwiderte Corinna spöttisch. Das Licht hatte aufgehört, Gespenster in der Dunkelheit zu wecken, aber dass er sie nicht sah, bedeutete nicht, dass sie nicht mehr da waren.
»Geh zurück«, sagte er. »Du kannst nicht mitkommen.«
»Kann ich nicht?«, fragte sie. »Und wer will mich daran hindern? Willst du mich vielleicht fesseln und knebeln und hier unten liegen lassen, damit mich die Ratten anknabbern?« Sie machte eine brüske Handbewegung, als würde sie einen Schlussstrich ziehen, womit das Thema für sie offensichtlich erledigt war. »Außerdem ist es eine ausgezeichnete Idee, so ungern ich es auch zugebe.«
»Was?« Etwas scharrte. Er konnte spüren, wie … etwas im Schutz der Dunkelheit auf ihn zukroch. Die Luft wurde noch schlechter.
»Das hier.« Corinna machte eine ausholende Geste. Ihr Mantel flatterte wie die Schwinge einer riesigen Fledermaus. »Warum bin ich nicht von selbst darauf gekommen? Ich werde wohl langsam alt.«
»Zwanzig?«, fragte Andrej.
»Oder es liegt an deiner Nähe«, fuhr Corinna ungerührt fort. »Habe ich Euch schon gesagt, dass Ihr einen schlechten Einfluss auf jeden in Eurer Nähe habt, Signore Delãny? Ich muss immer an … ähm … gewisse andere Dinge denken, wenn ich Euch ansehe.«
»Ich auch«, sagte Andrej. »Zum Beispiel daran, dich tatsächlich zusammenzuschnüren und zu Mario zurückzutragen.«
»Nein, das wirst du nicht«, sagte Corinna. »Ich kann nicht allein bleiben, Andrej. Nicht mehr. Ich fürchte mich. Ich weiß, dass es verrückt klingt, aber ich … ich hatte die ganze Zeit über das Gefühl, dass mich jemand beobachtet. Oder sucht.«
Nein, das klang absolut nicht verrückt. Andrej jagte ein eisiger Schauer über den Rücken. Konnte es sein, dass sie es auch gespürt hatte? Unmöglich!
»Außerdem ist dieser Weg wirklich viel sicherer«, fuhr Corinna fort, als er nicht antwortete. »Wenn auch ein bisschen unheimlich.«
»Und wohin führt er?«, fragte Andrej.
Corinna wirkte so zufrieden, als hätte sie die Tunnel mit eigenen Händen gegraben. »Das ist der untere Teil der Stadt. Nur die wenigsten wissen, dass es ihn überhaupt gibt. Auf diesem Weg kommen wir nicht nur in den Dogenpalast, sondern auch in unseren Palazzo.«
»Du kennst dich hier aus?«
»Niemand kennt sich hier aus«, antwortete Corinna. »Vielleicht ein paar Verbrecher, die sich hier verstecken, und die Ratten. Niemand, der nicht lebensmüde ist, kommt freiwillig hierher. Aber ich weiß, dass es einen Ausgang auf der anderen Seite gibt, von dem aus wir in unseren Palazzo gelangen.«
»Und was willst du dort?«
»Ich brauche doch meine Kleider und habe auch ein wenig Geld versteckt, das ich holen will. Eine Flucht ohne Kleider und Geld macht nicht wirklich Spaß.«
»Das hier ist auch kein Spaß«, sagte er ernst. Der faule Geruch, der in der Luft lag, verursachte allmählich ein Gefühl von Übelkeit in seinen Eingeweiden, und sein Herz schlug vielleicht nicht einmal schneller, aber sehr viel härter, als es sollte.
»Soll ich dir nun den Weg zeigen oder nicht?«, fragte Corinna.
»Hast du nicht gerade behauptet, du würdest dich hier nicht auskennen?«
»Das tue ich auch nicht«, beharrte sie. »Aber als Kind war ich ein paarmal in dem Zugang gleich unter unserem Palazzo. Ich hatte nie den Mut, weiter als ein paar Schritte hineinzugehen, aber ich bin sicher, dass ich ihn wiedererkenne. Mein Bruder war oft in den Katakomben. Er hat mich immer gefoppt und über mich gelacht, weil ich mich nicht getraut habe, ihm zu folgen. Aber ich weiß, dass er unser Zeichen an ein paar Abzweigungen angebracht hat.«
»Euer Zeichen?«, fragte Andrej.
»Unser Zeichen«, bestätigte Corinna. »Alle Geschwister haben geheime Zeichen. Hattest du keines?«
»Ich hatte keine Geschwister«, antwortete Andrej.
»Das war wahrscheinlich auch besser so«, antwortete Corinna ernsthaft. »Gehen wir jetzt weiter? Ich finde es unheimlich hier.«
Andrejs Vernunft meldete sich noch einmal zu Wort und versuchte ihn zu überreden, diesem
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