Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
ebenso erstaunt wie beunruhigt. In einer Stadt wie Venedig auf einen Keller zu treffen war so ziemlich das Letzte, womit er gerechnet hatte.
Und das Letzte, was er wollte, war, dort hinunterzugehen …
Der Wirt kam zurück und reichte ihm eine kleine Sturmlaterne, deren blasser Schein die Dunkelheit unter den Stufen jedoch noch herauszufordern schien. »Wenn Ihr Euch an meine Anweisungen haltet, kommt Ihr auf der anderen Seite des Platzes wieder heraus«, sagte er. »Normalerweise ist es dort still, aber was heute los ist, kann ich nicht sagen. Seid auf der Hut. Und wenn sie Euch erwischen …«
»… verrate ich niemandem, wer mir diesen Weg gezeigt hat«, sagte Andrej. »Gebt auf Corinna acht. Ich komme zurück, sobald ich kann.«
Er eilte die Treppe hinab, ohne dem Wirt Gelegenheit zu einem weiteren Wort zu geben. Einen schrecklichen Moment kämpfte er gegen eine vollkommen unbekannte Panik an, die ihn ohne Warnung aus der Dunkelheit heraus ansprang.
Es war grotesk. Angst vor der Dunkelheit hatte er nie gekannt, nicht einmal zu jener, nun schon Jahrhunderte zurückliegenden Zeit, in der er sein Geheimnis noch nicht gekannt und sich selbst für einen ganz normalen sterblichen Menschen gehalten hatte. Er hatte sich sogar insgeheim über jeden lustig gemacht, der die Dunkelheit fürchtete, war sie doch nicht nur etwas Natürliches, sondern sein Freund und Verbündeter.
Nun aber, ganz plötzlich, kannte er diese Furcht, und es war rein gar nichts Komisches oder gar Lächerliches daran. Ganz im Gegenteil: Je mehr er sich sagte, dass ihm keine Gefahr drohe, desto schlimmer wurde es. Die Dunkelheit war lebendig geworden, und irgendetwas verbarg sich darin. Etwas, dem er besser nicht begegnen sollte.
Ein dumpfes Poltern erklang über ihm, gefolgt von einer gedämpften, aber eindeutig erschrockenen Stimme und einem neuerlichen Poltern – alles innerhalb einer einzigen Sekunde. Dann klirrte etwas, und ein Streifen aus blassgrauem Licht fiel zu ihm herab, als die Klappe am Kopf der steilen Treppe wieder geöffnet wurde, wenn auch nur einen schmalen Spalt breit.
Andrej drehte sich – viel zu hastig – herum, wodurch die Laterne in seiner Hand in heftiges Schwanken geriet und einen lautlosen Sturm gelber und grauer Lichtreflexe in der Dunkelheit hervorrief.
»Ich dachte, wir wären uns einig, Mario«, sagte er scharf. »Wolltet Ihr nicht …?«
»Mario«, unterbrach ihn eine Stimme, die ungefähr so verständnisvoll und warm klang wie das sorgsam geschliffene Messer eines Barbiers, »hat mich wirklich tief enttäuscht. Ich habe ihn für einen Freund gehalten, dem ich vertrauen kann. Ihr habt einen schlechten Einfluss auf die Menschen, die Euren Weg kreuzen, Signore Delãny.«
Andrej war nicht einmal wirklich überrascht. Er fragte sich, ob er wirklich so naiv gewesen war zu glauben, dass es so einfach sein könnte.
Schließlich kannte er Corinna schon seit beinahe einer Woche.
»Was tust du hier?«, fragte er scharf.
Corinna zog die Klappe über sich zu und kam mit einer Leichtfüßigkeit die gemauerten Stufen herab, die ihn mit einem absurden Neid erfüllte. Das Licht hörte auf, rings um ihn wilde Kapriolen zu vollführen, und ließ nicht nur Corinnas Gesicht unnatürlich blass und ihre Augen viel zu groß und schwarz aus der Dunkelheit auftauchen, sondern zeigte ihm auch einen hässlichen dunklen Fleck auf ihrem Kleid.
»Und was ist das da?«
»Marios allerbester Chianti«, antwortete Corinna. Trotz des Dämmerlichts konnte er sehen, wie es in ihren Augen wütend aufblitzte. »Aus seinem privaten Vorrat. Aber von Rechts wegen sollte es eigentlich sein Blut sein, so niederträchtig, wie er mich hintergangen hat.«
Sie schnaubte wie ein wütender Stier. »Und wenn mich nicht irgend so ein betrunkener Dummkopf angerempelt hätte, dann würde es wohl wirklich Marios Blut sein, weißt du? So aber bin ich hineingegangen, um meinen angeblichen Freund um ein Tuch zu bitten, mit dem ich mich säubern kann, und was muss ich feststellen? Mein ach so guter Freund Mario macht gemeinsame Sache mit meinem angeblich ach so guten Freund Andrej! Behandelt man so die Frau, der man die ewige Liebe geschworen hat, Signore Delãny – und das buchstäblich! –, oder auch nur jemanden, von dem man behauptet, sie wäre eine gute Freundin?«
»Er kann nichts dafür«, sagte Andrej. »Ich kann sehr überzeugend sein, wenn ich will.«
»Nennt dich Abu Dun deshalb immer Hexenmeister, wenn er glaubt, dass niemand es hört?«,
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