Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
sachte Berührung von Rezzoris Fuß ließ einen weiteren Teil der Balken einbrechen und mit gewaltigem Getöse in der Tiefe verschwinden. Andrej sah aus den Augenwinkeln, wie sich Marios Körper auf beinahe unheimliche Weise bewegte, indem er zur Seite rutschte und ebenfalls halb in den schrecklichen Krater glitt, dann aber noch einmal zur Ruhe kam. Sein fast abgetrennter Kopf rollte herum, und sein rechter Arm rutschte über die Kante und begann wild zu pendeln. Wohl nicht nur für ihn sah es so aus, als versuche er anklagend mit der Hand auf Corinna und ihn zu deuten. Corinna sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein.
»Mario«, flüsterte Rezzori. Andrej war beinahe überrascht. Er hatte den Herrn der Signori di Notte nicht als einen Mann eingeschätzt, der in Gasthäusern verkehrte. »Aber was …?«
Rezzori ging langsam in die Knie, wobei er sich mit beiden Händen am zerbrochenen Türrahmen der Kammer festhielt, wagte sich dann noch weiter vor und streckte die Hand aus, wohl um den Toten zu packen und herauszuziehen. Im nächsten Augenblick war es dafür jedoch zu spät, denn der Fußboden zitterte erneut, und jetzt gab es nichts mehr, was Marios Leichnam daran hinderte, zusammen mit dem Rest der verheerten Vorratskammer in der ewigen Finsternis unter der Stadt zu verschwinden.
Ebenso wie ein guter Teil der Wand, an der sich Rezzori abstützte.
Später wusste Andrej es besser: Er hätte einfach ruhig bleiben und gar nichts tun sollen, und etliches von dem, was Corinna und ihm danach zustieß, wäre gar nicht geschehen. Doch in diesem Moment dachte er nicht nach, sondern packte Rezzori und zog ihn mit einer so blitzartigen Bewegung in Sicherheit, dass der Signori gar nicht wusste, wie ihm geschah. Hart landete er auf dem Rücken, und Andrej registrierte eine Bewegung aus den Augenwinkeln und spannte sich ganz instinktiv zum Sprung, als er in den Lauf der beiden geladenen Musketen blickte.
»Halt!« Rezzori hob zusätzlich die Hand, um die beiden Bewaffneten zurückzuhalten, stemmte sich mit einer unsicheren Bewegung hoch und starrte aus großen Augen erst das gähnende Loch im Boden an, wo er eine halbe Sekunde zuvor noch gestanden hatte, dann Andrej. Etwas Seltsames erschien in seinem Blick – ganz bestimmt keine Dankbarkeit, aber auch nichts, was Andrej wirklich deuten konnte. Vielleicht etwas, das zu sagen schien: Das ändert gar nichts.
Andrej stand endgültig auf (er hütete sich, auch nur die Hand in Rezzoris Richtung auszustrecken, um ihm zu helfen), und der Signore di Notte fragte mit eisiger Stimme: »Warum habt Ihr das getan, Delãny?«
Corinna kam ihm zuvor. »Woher wollt Ihr wissen, dass er es war?«
Sofort wusste Andrej, dass Rezzori nicht darauf antworten würde. Der Blick seiner erbarmungslosen Augen tastete kalt über Andrejs Gestalt, das Blut auf seinen Kleidern und seinen Händen und über den Schwertgriff, der aus seinem Gürtel ragte. Dann aber machte er einen Schritt zurück, womit er wieder zwischen seinen beiden bewaffneten Begleitern stand. Betont langsam wandte er sich zu Corinna um. Überraschung erschien auf seinem Gesicht und verschwand wieder, und Andrej fragte sich besorgt, ob ihm vielleicht etwas aufgefallen war, das er nicht verstand. Vielleicht die winzige Platzwunde unter Corinnas Auge, die vor einigen Augenblicken noch da gewesen war und jetzt nicht mehr.
Wenn ja, dann ging er mit keinem Wort darauf ein. »Wenn es Euer Freund nicht war, Contessa, dann muss ich mich fragen, ob Ihr diesen armen Mann umgebracht habt. Wäre Euch das lieber?« Corinna wollte auffahren, doch Rezzori ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen, sondern fuhr in einer seltsamen Mischung aus Ungeduld und resigniertem Wohlwollen fort: »Ich bin Eurer Familie und insbesondere Eurem Vater zu großem Dank verpflichtet, Contessa. Aus keinem anderen Grund habe ich Signore Delãny heute Morgen auf freien Fuß gesetzt. Aber jetzt geht es um mehr.«
»Ja, um unser aller Leben, wenn Ihr noch lange hier herumsteht und dummes Zeug redet!«, sagte Corinna schnippisch. Rezzori ignorierte sie. »Es hat Tote gegeben. Und das in der Stadt, für deren Wohl ich verantwortlich bin.«
Als wäre das Erklärung genug, maß er Corinna noch einmal mit einem abschließenden, mahnenden Blick, drehte sich dann wieder zu Andrej um und fragte mit offiziell klingender, ruhiger Stimme: »Ich frage Euch, Andrej Delãny – habt Ihr diesen Mann getötet?«
»Nein«, antwortete Andrej im gleichen Tonfall.
Rezzori wirkte fast
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