Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
Decke war eine einzige Öffnung, kaum so groß wie eine Kinderhand, und nachdem das trübe Tageslicht erloschen war, ließ das Guckloch nur noch Feuchtigkeit herein, die unzählige Wassertröpfchen auf den Wänden, dem Boden und sogar seiner nackten Haut zurückließ.
Am Anfang hatte er sie noch weggewischt, aber das hatte es nur schlimmer gemacht, hinterließen doch auch sie einen dünnen, schmierigen Film auf seiner Haut, der nach Tod und Metall roch.
Nach Blei, um genau zu sein.
Zum vielleicht hundertsten Mal, seit er in dieses winzige Loch unter dem schrägen Dach gebracht worden war, spannte Andrej die Muskeln an und versuchte, die Ketten zu zerreißen, mit denen er an den Füßen an die Wand gefesselt war, und ebenso oft hielten sie selbst seinen gewaltigen Körperkräften mühelos stand. Die Glieder waren aus Eisen geschmiedet, das so dick wie der kleine Finger eines Mannes war, und hätten wohl selbst Abu Dun widerstanden, aber das hatte er auch schon bei seinem ersten Befreiungsversuch gemerkt. Trotzdem hatte er nicht aufgegeben und würde es auch weiterhin nicht tun, und sei es nur, um sich nicht der Untätigkeit und damit den Grübeleien hinzugeben. Dazu würde er noch früh genug Gelegenheit haben, nahm er an, und für sehr lange Zeit.
Er fragte sich, wie es Corinna ergangen sein mochte, aber seine Erinnerungen spielten ihm einen bösen Streich, wenn er versuchte, sich auf ihr Gesicht zu besinnen oder auf das letzte Mal, dass er sie gesehen hatte. Vielleicht lag es an dem Schlag, den Rezzori ihm versetzt hatte. Sein Kopf tat noch immer weh, obwohl es Stunden her sein musste, dass der Signori ihn niedergeschlagen und ganz offensichtlich auch in Kauf genommen hatte, ihn dabei umzubringen. Seine Bewacher hatten ihm zwar jeden Kleiderfetzen vom Leib gerissen, waren aber nicht so zuvorkommend gewesen, ihn auch zu säubern. Seine Schläfe war dick mit seinem eigenen Blut verkrustet, und er hatte immer noch Mühe, das linke Auge zu öffnen.
Rezzori wusste es nicht, und Andrej würde ihm auch gewiss nicht den Gefallen erweisen und es ihm sagen, aber der Signori gehörte zu jener erlesenen Minderheit, der es gelungen war, ihm ernsthaften Schaden zuzufügen. Wäre er der Mann gewesen, für den Rezzori ihn gehalten hatte, dann wäre er jetzt tot.
Und was, flüsterte eine dünne, hässliche Stimme hinter seiner Stirn, wenn genau das seine Absicht gewesen war? Oder – schlimmer noch – was, wenn Rezzori genau gewusst hatte, was er war, und deshalb so hart zugeschlagen hatte?
Wahrscheinlich war es so, wie Corinna behauptet hatte, und Rezzori war einfach ein harter Mann, der seinem Weg ohne Rücksicht auf andere folgte und sich allenfalls hinterher Gedanken darüber machte, welchen Preis es gekostet hatte. Wenn überhaupt.
Andrej verscheuchte den Gedanken an einen Mann, den er vermutlich schneller wiedersehen würde, als ihm recht war, und dachte lieber an Corinna. Zwei von Rezzoris Männern hatten ihn zu einem wartenden Boot geschleift und grob genug hineingeworfen, um ihn abermals das Bewusstsein verlieren zu lassen (vielleicht hatte ihm der Signori auch einen weiteren Hieb mit dem Gewehrkolben versetzt), aber er glaubte, sie währenddessen noch einmal gesehen zu haben: verletzt und blutüberströmt und wimmernd vor Schmerz, aber am Leben.
Es war nur ein Erinnerungsfetzen, nicht einmal ein wirkliches Bild, aber statt ihn zu beruhigen, bewirkte er das Gegenteil. Rezzori war alles, nur nicht dumm. Er würde ganz gewiss nicht annehmen, dass die Jungfrau Maria ein Wunder bewirkt und Corinnas Wunden auf magische Weise geheilt hatte.
Doch im Moment konnte Andrej rein gar nichts für sie tun. Besser, er analysierte sachlich seine Situation und überlegte sich, wie er diesen unwirtlichen Ort so schnell wie möglich verlassen konnte.
Er würde hier herauskommen, daran bestand kein Zweifel, aber die Frage war, wann, und vor allem, wie. Das hier war nicht wie die zahlreichen Gefängniszellen, in denen er im Laufe seines langen Lebens schon gesessen hatte (und aus denen er ausgebrochen war). Über diesen Ort hatte er viel gehört – allem voran, dass noch niemandem die Flucht von hier gelungen war. Er hatte ihn sich anders vorgestellt und die Bezeichnung Bleikammern für wenig mehr als einen bildhaften Vergleich gehalten, ein Wort, dessen reiner Klang schon Unbehagen hervorrief und das genau zu diesem Zweck erdacht worden war.
Unglückseligerweise stimmte das nur zum Teil. Die Kammer war so winzig, dass er unter
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