Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
er, den gewaltigen Säbel mitzunehmen, schleuderte ihn aber, angesichts seiner monströsen Größe und des enormen Gewichts, in hohem Bogen in die Schwärze hinter seinem Besitzer.
Noch bevor das letzte Echo verklang, das sein Aufprall in der immerwährenden Finsternis hervorrief, war er schon die Treppe hinauf und durch die zerborstene Klappe.
Tatsächlich befanden sie sich wieder in der winzigen Abstellkammer von Marios Gasthaus. Corinna kniete am Boden, die Hände vors Gesicht geschlagen. Hellrotes Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor, und ihre Schultern zuckten, geschüttelt von einem heftigen Weinkrampf. Schnell sah sich Andrej im Raum um. Ein paar Schritte weiter entdeckte er den Besitzer des Etablissements, Mario, auf dem Rücken liegend, der aus leeren Augen die Decke anstarrte. Seine Kehle war so tief durchgeschnitten, dass es an eine Enthauptung grenzte.
Andrej ließ sich rasch neben Corinna in die Hocke sinken, griff nach ihren Händen und drückte sie mit sanfter Gewalt nach unten. Ihr blutüberströmtes Gesicht begann bereits anzuschwellen, aber Andrej erkannte, dass es schlimmer aussah, als es in Wahrheit war. Ihre Nase war gebrochen, die Lippen aufgeplatzt, und sie hatte eine hässliche Platzwunde unter dem rechten Auge, doch nichts davon war gefährlich.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Ja«, behauptete Corinna und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Dann wurden ihre Augen plötzlich groß, und sie schlug die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken. Offensichtlich hatte sie den toten Mario bisher noch gar nicht bemerkt.
»Schon gut«, sagte Andrej rasch. Schnell, aber sehr vorsichtig zog er sie an sich, sodass sie den schlimm zugerichteten Leichnam nicht mehr ansehen musste.
»Keine Angst. Es ist alles in Ordnung. Jetzt tut dir keiner mehr etwas.«
Ein albernes (und unwahres) Versprechen, aber offenbar genau das, was sie hören wollte. Ihr Schluchzen wurde leiser, dann machte sie sich unsicher aus seiner Umarmung los und fuhr sich mit dem Handrücken durchs Gesicht – was den Anblick allerdings nicht besser machte, sondern ganz im Gegenteil nur noch beängstigender.
»Tut weh«, brachte sie schniefend heraus.
»Ich weiß«, sagte Andrej. »Aber es ist nicht schlimm, glaub mir.«
Corinna zog die Nase hoch und presste die Hand gegen die Wange. »Schanschmerschen«, nuschelte sie.
»Was?«
Corinna nahm die Hand herunter, versuchte – vergeblich – die Tränen wegzublinzeln, und sagte noch einmal und jetzt überdeutlich: »Zahnschmerzen.«
»Dagegen kann ich nichts tun«, sagte Andrej. Dennoch legte er die Hand unter ihr Kinn, hob behutsam ihren Kopf an und betrachtete ihr Gesicht genauer. Ihre Nase war ganz eindeutig gebrochen, und das wahrscheinlich gleich mehrfach, aber sie hatte bereits aufgehört zu bluten, und auch der Riss unter ihrem Auge war schon verschorft. Er hatte sich nicht getäuscht.
Corinna wartete sichtlich darauf, dass er etwas sagte, schob dann seine Hand beiseite und tastete mit spitzen Fingern nach ihrem Unterkiefer. Schließlich pulte sie einen Moment mit der Zunge im Mund herum und spuckte einen abgebrochenen Zahn auf ihre Handfläche. »Der war vollkommen in Ordnung!«, beschwerte sie sich. »Hast du eine Vorstellung, was diese Zahnbrecher dafür nehmen, ihn zu ersetzen, und wie weh so etwas tut?«
»Bei dir nicht«, antwortete Andrej. »Keine Angst. Am Anfang dauert es ein bisschen länger, aber in ein paar Tagen ist er nachgewachsen.«
Corinna blinzelte. Sie hob abermals die Hand und tastete behutsam über ihre Nase. Dann starrte sie ihn fassungslos an. Ihre Mundwinkel zuckten, und ihre Augen füllten sich schon wieder mit Tränen. »Hast du …?«
Die Verlockung, Ja zu sagen, war groß, aber dann schüttelte er doch den Kopf. »Ich war zehn Jahre älter als du, als es passiert ist. Und ich war noch viel erschrockener. Und es gab damals niemanden, der es mir erklärt hätte … oder mich auch nur darauf vorbereitet.«
»Und … wie?«, murmelte Corinna.
»Das weiß niemand«, antwortete Andrej ehrlich. »Nicht einmal die Ältesten von uns. Es passiert einfach.«
»Und du bist sicher, dass du nichts damit zu tun hast?« Corinna klang fast enttäuscht. »Auch nicht ein ganz kleines bisschen?«
»Das hätte ich gar nicht gekonnt«, antwortete er.
Corinna betrachtete nachdenklich den abgebrochenen Zahn auf ihrer Handfläche. »Aber du hast mir erzählt, dass du Abu Dun zu einem von euch gemacht hast.« Sie verbesserte sich unwillkürlich.
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