Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
der schrägen Decke nicht aufrecht hätte stehen und die Wände in allen Richtungen mit den ausgebreiteten Armen hätte berühren können. Die Decke bestand aus dicken gehämmerten Bleiplatten, die nicht nur dafür sorgten, dass es hier im Winter ebenso grausam kalt wie im Sommer unerträglich heiß war, sondern zweifellos auch jeden krank machten, der über Wochen oder sogar Monate hier eingesperrt war.
Der Gedanke ließ ein knappes, sarkastisches Lächeln auf seinen Lippen erscheinen und genau so schnell wieder verschwinden. Insgeheim hatte er sich (wie fast jeder) gewünscht, den legendären Dogenpalast irgendwann einmal genauer kennenzulernen – wenn auch vielleicht nicht unbedingt diesen Teil …
Schritte näherten sich, und er hörte, wie ein großer Schlüssel mehrmals in einem Schloss von dazu passenden Dimensionen herumgedreht wurde. Hartes Metall scharrte auf Stein, als die Tür nach außen schwang. Andrej blinzelte in das grelle Licht zweier flackernder Fackeln. Seine an das bleigraue Dämmerlicht gewöhnten Augen nahmen zuerst nicht mehr als Umrisse wahr, aber immerhin konnte er erkennen, dass sie zu dritt waren und einer von ihnen außergewöhnlich groß. Für die Dauer eines halben Atemzuges wurde er von der ebenso wilden wie aberwitzigen Hoffnung ergriffen, dass Abu Dun gekommen war, um ihn zu befreien. Doch grausam schnell sah er, dass es nicht der Nubier, sondern einer von Rezzoris Männern war, auch wenn er Abu Duns Größe und muskulösem Wuchs nicht sonderlich nachstand.
Abgesehen davon würde Abu Dun wohl kaum herkommen, um ihn zu befreien.
Nur einer der drei Männer betrat seine Zelle – für alle drei hätte der wenige Platz wohl auch kaum gereicht – und blieb in respektvollem Abstand stehen, soweit es in der winzigen Bleikammer möglich war.
»Ich soll dir etwas von Signore Rezzori ausrichten«, sagte er. »Wirst du vernünftig sein und mir zuhören?« Andrej sparte sich die Bemerkung, dass er den Mann bereits im gleichen Moment hätte töten können, in dem er in Reichweite seiner Beine gekommen war. Er sah ihn nur an, was dem Mann aber als Zustimmung auszureichen schien. »Ich soll dir Folgendes ausrichten«, sagte er. »Wenn dir etwas an der Signorina liegt, dann leistest du keinen Widerstand. Wenn du uns angreifst oder zu fliehen versuchst, dann stirbt die Contessa. Hast du das verstanden?«
Andrej nickte.
»Und wie lautet deine Antwort?«
»Wohin bringt ihr mich?«, fragte Andrej.
»Zuerst zu Signore Rezzori. Wohin es danach geht, hängt von dir ab.«
Das war es, was er sagte, aber Andrej sah auch das tückische Funkeln seiner Augen und so etwas wie eine boshafte Vorfreude. Er nickte trotzdem. Nun erwartete Andrej, dass der Mann seine Fesseln lösen würde, stattdessen wandte er sich um und verließ die Zelle, um seinem größeren Kameraden Platz zu machen. Andrej rührte sich nicht, während der Signori nicht nur unnötig grob seine eisernen Handfesseln löste und ihn von der Wand loskettete, sondern auch die Gelegenheit nutzte, seinen nackten Körper ungeniert und in aller Ausgiebigkeit zu mustern. Was er sah, nötigte ihm nur eine verächtliche Grimasse ab. Er packte Andrej hart am Arm und stieß ihn so heftig durch die Tür, dass er gegen die Wand auf der anderen Seite prallte.
»Lass das, Ernesto«, sagte der Mann, der zuerst mit Andrej gesprochen hatte. »Signore Rezzori will ihn unversehrt. Du wirst deinen Spaß noch früh genug bekommen.« Er warf Andrej ein Bündel zerschlissener Kleider zu, die dieser erst auf den zweiten Blick als seine eigenen identifizierte, und machte mit der anderen Hand eine unwillige Geste. »Zieh das an!« Andrej gehorchte schweigend und rasch, aber anscheinend zumindest für Ernesto nicht schnell genug, denn der versetzte ihm einen derben Stoß, der ihn zum zweiten Mal gegen die Wand torkeln ließ. Er schwieg auch dazu.
Nachdem er seine Stiefel angezogen und Ernesto ihn zum dritten Mal gegen die Wand gestoßen hatte, legte ihm einer der Männer ein Paar schwerer eiserner Handfesseln an, und sie verließen den Korridor und gingen eine lange, in kühnem Winkel nach unten führende Treppe hinab. Von unten wehte ihnen ein eisiger Hauch entgegen, begleitet von den typischen Geräuschen eines Gefängnisses. Es war ein bisschen wie in Scalsis Spital: Obwohl es dort oben nur eine Handvoll Zellen gab, meinte et das Leid zu spüren, das diese mit Blei verkleideten Wände über so viele Jahre getrunken hatten.
Nach einer Weile kamen auch noch
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