Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
andere Geräusche hinzu, die er nicht alle identifizieren konnte: die normalen Laute eines so großen Hauses, aber auch Schritte und Gelächter, Musik und ein fernes an- und abschwellendes Rauschen, das er für Meeresbrandung gehalten hätte, hätte er nicht gewusst, dass es unmöglich war. Von dem Prunk und der Pracht aber, die er erwartet hatte (und die der gewaltige Gebäudekomplex nach außen hin auch vermuten ließ), sah er rein gar nichts, denn ihr Weg führte sie durch ein wahres Labyrinth düsterer und schmaler Gänge, in denen es schlecht roch und ihnen nur wenige andere Menschen begegneten. Ernesto nutzte jede Gelegenheit, ihm einen derben Knuff oder Rippenstoß zu versetzen (Andrej führte in Gedanken sorgfältig Buch über ihre Anzahl und Heftigkeit – man konnte schließlich nie wissen …), und einmal kamen sie an einem schmalen vergitterten Fenster vorbei, das auf einen der zahlreichen Höfe des Palastes hinausführte, auf dem offensichtlich gerade ein Fest gefeiert wurde. Musik und Gelächter drangen an sein Ohr, und er spürte die trotz der Kälte ausgelassene Stimmung der Menge. Viele von ihnen trugen aufwändige und manchmal auch bizarre Kostüme, und überall brannten Fackeln und bunte Lichter. Nach allem, was er an diesem Tag gesehen und erlebt hatte, kam ihm der Anblick fast absurd vor, beinahe ein wenig abstoßend, aber seine Begleiter ließen ihm nur die Zeit für einen kurzen Blick, bevor er unsanft weitergestoßen wurde. Die Liste der Dinge, über die er mit dem großen Burschen würde reden müssen, wurde immer länger.
Rezzori erwartete ihn in einem Teil des Palastes, den er schon kannte: in seinem kleinen, nahezu leeren Büro. Jetzt kam es ihm größer vor und auf schwer zu fassende Art noch leerer als am Morgen. Der Signore saß hinter seinem gewaltigen Tisch, dessen Platte mittlerweile so poliert worden war, dass sich seine Gestalt verzerrt darin spiegelte. Er hatte sich umgezogen und trug jetzt etwas, von dem Andrej nicht ganz sicher war, ob es sich um eine besonders prachtvolle Uniform oder ein militärisch anmutendes Karnevalskostüm handelte. Seine rechte Hand spielte mit dem Stiel eines kostbar geschliffenen Glases, in dem Wein von der Farbe frischen Herzblutes schimmerte – der einzige Gegenstand, der die Leere der riesigen Tischplatte störte. Vergebens versuchte Andrej, in seinem Gesicht zu lesen. Es war wie eine Maske, auf der alles und gar nichts geschrieben stand.
»Nehmt Platz, Signore Delãny«, sagte er, obwohl Ernesto ihn längst auf den einzigen Stuhl vor dem riesigen Tisch gestoßen und sich wie ein Fleisch gewordener Berg mit vor der Brust verschränkten Armen hinter ihm aufgebaut hatte. »Man hat Euch gesagt, dass es der Contessa gut geht?«, fragte Rezzori.
Andrej nickte. »Und alles andere auch.«
»Und Ihr werdet nicht versuchen, mich anzugreifen, zu fliehen oder etwas ähnlich Dummes zu tun?«
Andrej schüttelte den Kopf und schwieg.
Rezzori sah ihn noch einen kleinen Augenblick lang abschätzend an, dann nippte er an seinem Wein, behielt den Schluck länger als nötig im Mund und wandte sich schließlich mit einem angedeuteten Nicken an den Burschen hinter ihm. »Lass uns allein, Ernesto.« Andrej sah nicht hoch, aber er spürte den Schrecken des Mannes. »Seid Ihr sicher, dass …«, begann er, aber Rezzori unterbrach ihn mit etwas schärferer Stimme, aber auch einem fast verständnisvollen Lächeln und damit der ersten echten Regung, die Andrej auf seinem Gesicht las, seit er hereingekommen war. »Das bin ich. Geh und warte draußen.« Ernesto zögerte, drehte sich dann aber ohne ein weiteres Wort um und ging »Ist das jetzt besonders mutig von Euch oder besonders dumm?«, fragte Andrej, als sie allein waren.
»Sagt Ihr es mir«, verlangte Rezzori.
»Sagt Ihr mir, was Ihr mit Corinna getan habt, dann beantworte ich Euch Eure Frage«, erwiderte Andrej.
Rezzori nippte erneut an seinem Glas, aber Andrej bemerkte nun auch, dass er gar nicht wirklich trank, sondern nur so tat. Der Wein benetzte nicht einmal seine Lippen. »Es geht ihr gut«, sagte er. »Wie sich gezeigt hat, wurde sie nicht so schlimm verletzt, wie es im ersten Moment den Anschein hatte.« Behutsam stellte er das Glas auf den Tisch und begann es zu drehen, sodass sich das Licht der Laterne in den Facetten brach und unzählige leuchtende Lichtsplitter auf den Tisch warf. Scheinbar interessiert drehte Rezzori das Glas weiter, als versuche er, die Lichtreflexe zu einer ganz bestimmten
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