Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
für deine Hilfe«, sagte Andrej. »Aber jetzt kann ich durchaus allein stehen.« Nun erschien erst Verblüffung auf Ernestos Gesicht, dann aber – zu seinem Pech – nicht etwa Erkenntnis, sondern purer Trotz. Er drückte umso fester zu, und Andrej gelangte endgültig zu dem Schluss, dass er seine Chance gehabt hatte, und erwiderte den eisenharten Griff der schwieligen Finger. Ernesto war dumm (oder stur) genug, noch immer nicht aufzugeben, sondern stülpte entschlossen die Unterlippe vor und nahm schließlich auch noch die andere Hand zu Hilfe. Seine Muskeln strafften sich, und an seinem Hals traten Sehnen wie dünne, bis zum Zerreißen gespannte Drähte hervor. Er presste die Kiefer so fest zusammen, dass man seine Zähne knirschen hörte.
»Du bist stark«, lobte Andrej. »Aber jetzt solltest du aufhören.«
Doch Ernesto folgte diesem guten Rat nicht. Sein Gesicht färbte sich allmählich dunkelrot, und seine Augen quollen vor Anstrengung schier aus den Höhlen. Aber er gab nicht auf, nicht einmal, als Andrej nun seinerseits den Druck auf seine Hand erhöhte und er langsam in die Knie zu brechen begann.
»Delãny«, sagte Rezzori leise. Und als Ernesto mit einem unterdrückten Stöhnen zu Boden fiel, schüttelte er seufzend den Kopf und sah Andrej beinahe flehend an. »Bitte!«
Doch Andrej ließ nicht los, auch wenn er insgeheim wusste, dass es genug war. Wimmernd sank Ernesto mit dem Oberkörper nach vorne. Andrej versuchte sich zu erinnern, wie oft der Bursche ihn geschlagen hatte (waren es acht- oder neunmal gewesen? Er wusste es nicht mehr genau, beschloss aber, großzügig zu sein), zählte in Gedanken langsam bis zehn und ließ Ernestos Hand dann los.
Der Bursche starrte eine halbe Sekunde lang seine rechte Hand an, die bereits anzuschwellen begann, und klemmte sie sich dann unter die Achselhöhle.
»Ist sie gebrochen?«, fragte Rezzori.
Ernesto wimmerte eine Antwort, die niemand verstand, doch Andrej schüttelte nur den Kopf. »Nur gequetscht.«
»Dann lasst uns gehen«, sagte Rezzori. »Und tut mir den Gefallen und hört mit dem Unsinn auf, Delãny.«
Andrej wandte sich zur Tür, und auch Ernesto wollte sich hochstemmen, doch Rezzori hielt ihn mit einem Kopfschütteln zurück. »Geh und lass deine Hand versorgen«, sagte er. »Morgen früh erwarte ich dich wie gewohnt zum Dienst.«
Andrej folgte ihm nach draußen, und Rezzori maß ihn mit einem neuerlichen tadelnden Blick. »Ich hätte Euch für ein wenig klüger gehalten, Signore Delãny. Sind es denn nicht sonst die Kinder, die bei jeder Gelegenheit ihre Kräfte miteinander messen müssen, und nicht jemand, der so alt und weise ist wie Ihr?«
»Wer sagt Euch, dass ich weise bin?«
»Ich nahm an, dass das nicht ausbleibt, wenn man so viele Leben lebt«, sagte Rezzori. »Aber danke, dass Ihr ihn nicht getötet habt. Man mag es nicht glauben, wenn man ihn so erlebt, aber er ist ein guter Mann. Einer meiner besten.«
Nebeneinander gingen sie die schmale Treppe hinunter. Erst jetzt wurde Andrej die Absurdität ihrer Situation bewusst. Abgesehen davon, dass er das vertraute Gewicht der Waffe an seinem Gürtel vermisste und seine Kleider wenig mehr als Fetzen waren, hätte ein ahnungsloser Beobachter sie für zwei alte Freunde halten können, die angeregt miteinander plauderten. Dabei gab es in dieser Stadt vermutlich keine zwei Männer, die noch vor wenigen Minuten näher daran gewesen waren, sich gegenseitig umzubringen.
Und es zweifellos wieder sein würden, sollte es sich als notwendig erweisen.
Ein Wachtposten trat respektvoll beiseite, als sie sich einer schmalen Tür näherten, die sich so geschickt in das Mauerwerk einfügte, dass sie Andrej bei seinem ersten Besuch gar nicht aufgefallen war. Ein Schwall unerwartet warmer Luft schlug ihnen entgegen, zusammen mit den Geräuschen eines noch fernen Festes, wahrscheinlich desselben, das er eben durch das Fenster beobachtet hatte. Auch hörte er, dass ihnen Schritte folgten, und nahm den leichten Geruch von Waffenöl wahr. Ganz so groß schien Rezzoris Vertrauen in sein Wort dann wohl doch nicht zu sein. Aber er musste zugeben, dass die Signori wirklich gut waren. Niemand, der nicht über seine scharfen Sinne verfügte, hätte gemerkt, dass sie nicht allein waren.
»Wohin gehen wir, Signore?«, fragte er nach einer Weile. »Das ist nicht der Weg zur Folterkammer.«
»Das kommt ganz darauf an, wie man eine solche definiert«, antwortete Rezzori amüsiert. »Manche würden es durchaus so
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