Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
Schritte verursachten unangenehm saugende Geräusche auf dem Boden, und von der Decke, die sich so weit über ihnen befand, dass das Licht der beiden Fackeln sie nicht mehr erreichte, tropfte Feuchtigkeit, die manchmal mit einem leisen Zischen in den Flammen verdampfte. Zu dem fauligen Geruch der Kanäle gesellten sich noch andere widerliche Gerüche, die er gar nicht genau einordnen wollte. Das ferne Meeresrauschen des Festes war zwar auch hier zu hören, wurde aber mehr und mehr von anderen, beunruhigenden Lauten durchdrungen, wie einem Stöhnen, ganz weit entfernten Schreien und dem Klirren von Ketten. Es verging eine geraume Weile, bis ihm klar wurde, dass nichts davon real war und ihm seine Fantasie schon wieder einen bösen Streich spielte.
Doch nicht einmal diese Erkenntnis nahm dem Ort seinen Schrecken. Es war wieder wie vorhin, als er unter der Stadt eingesperrt gewesen war, nur schlimmer. Diesmal war es keine Einbildung: Die steinernen Wände umschlossen ihn tatsächlich. Er spürte die Grenzen des gemauerten Grabes, die rechts und links an seinen Schultern entlangschrammten, und sah in die Dunkelheit, die sich nicht einmal durch das Licht der beiden Fackeln wirklich vertreiben ließ und sie zu verspotten schien. Und wurde die Luft nicht bereits schlechter, sodass ihm jeder Atemzug ein winziges bisschen mehr Mühe bereitete als der davor?
»Die Treppe hinunter«, sagte Rezzori hinter ihnen. »Und gebt acht, Contessa. Sie ist steil.«
Andrej sah keine Treppe. Die erste Stufe tauchte so unerwartet unter seinem Fuß auf, dass er vielleicht gestürzt wäre, hätte Rezzori ihn nicht gewarnt, und wieder narrte ihn das flackernde Licht. Selbst als er die Fackel senkte, reichte der rote Schein nie weit genug, um die nächste Stufe genau erkennen zu können. Auch scheiterte sonderbarerweise sein Versuch, sie zu zählen. Es mochten fünfzig sein, genauso gut aber auch hundert. Irgendwann gingen sie wieder über geraden Boden, und zu Andrejs Entsetzen wurde der Gang noch einmal schmaler.
»Wohin führt Ihr uns, Signore?«, fragte Corinna. Ihre Stimme zitterte, und Andrej hörte die Angst darin, die fast so groß wie seine eigene war. »Das ist ein schrecklicher Ort. Man hat das Gefühl, bei lebendigem Leibe begraben zu sein.«
Warum sagte sie das?, dachte Andrej schaudernd. Wollte sie ihn quälen? Doch dann schämte er sich seines Gedankens. Corinna konnte nicht wissen, welche Bedeutung diese Worte für ihn hatten, und sie würde es auch nie erfahren.
»Es ist nicht mehr weit, Contessa«, antwortete Rezzori.
Auch seine Stimme klang anders. Vielleicht war eine ganz leichte Spur von Furcht darin, zumindest aber Beklemmung, und die unsichtbaren Wände warfen sie verzerrt und um eine düstere Facette bereichert zurück, als hätte die Dunkelheit selbst eine Stimme bekommen und wiederholte seine Worte. »Gebt acht, Andrej. Gleich kommt eine Tür. Dahinter geht es nach rechts.«
Falls sich die Gelegenheit ergab, dachte Andrej mürrisch, würde er sich mit Rezzori über die genaue Bedeutung des Wortes gleich unterhalten müssen, denn sie legten noch einmal mindestens zwanzig oder dreißig Schritte zurück, bevor sie die Abzweigung erreichten. Der Korridor dahinter war wieder etwas breiter, und auch der Luftzug nahm zu, genau wie die Geräusche der fernen Festlichkeiten lauter wurden. Sie näherten sich einer Tür, die ins Freie führte.
Es war der Geruch, der ihm endgültig klarmachte, wo sie waren: der typische Gefängnisgeruch, der in allen Kerkern und allen Verliesen zu allen Zeiten seine ganz unverwechselbare Note hatte, sodass ihn niemand vergaß, der nur lange genug an einem dieser schrecklichen Orte gewesen war. Sie näherten sich den Pozzi, dem als Gefängnis dienenden Teil des Dogenpalastes. War es ein Fehler gewesen, Rezzori zu vertrauen?
Als der Gang breiter wurde, hob Rezzori seine Fackel hoch über den Kopf, damit sie sich nicht verbrannten, drängte sich an Corinna und ihm vorbei und schritt so schnell aus, das Andrej fast Sorge hatte, ob Corinna noch mithielt. Schon bald blieb Rezzori jedoch wieder stehen, grub einen weiteren Schlüssel aus einer der zahllosen Taschen seiner bunten Fantasieuniform und öffnete eine mit schweren Eisenbändern verstärkte Tür. Dahinter flackerte gelbes und rotes Licht, Gelächter und die Fetzen fröhlicher Musik schlugen ihnen entgegen.
Dicht hinter dem Signori traten sie durch die Tür. Corinna blieb erleichtert aufatmend stehen. »Und ich dachte schon, Ihr wolltet
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