Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
kannst das lesen?«, fragte Scalsi.
»Und nicht nur das«, erwiderte Abu Dun liebenswürdig, legte das Blatt aus der Hand und nahm stattdessen wahllos eines der Bücher auf, die sich auf Scalsis Schreibtisch stapelten. Er klappte es auf, las zwei Sätze in fließendem Latein vor und schloss es wieder, um erst dann einen Blick auf den Einband zu werfen.
»Ein gutes Buch, das eine Menge Weisheit enthält«, sagte er. »Aber ich ziehe das Original in Altgriechisch vor. Diese Übersetzung ist mangelhaft.«
Scalsi überwand seine Überraschung erstaunlich schnell, riss ihm das Buch aus der Hand und warf es so wuchtig auf den Stapel zurück, dass der ganze Turm bedrohlich ins Wanken geriet und vielleicht sogar umgestürzt wäre, hätte Abu Dun ihn nicht hastig festgehalten und mit einiger Mühe wieder ausbalanciert.
»Wohin ist sie gegangen?«, fragte Abu Dun.
»Das weiß ich nicht«, beharrte Scalsi. »Mir wurde gesagt, dass jemand kommt, der mir weitergehende Anweisungen überbringt, dann ist sie weitergezogen. Ich weiß nicht, wohin. Vielleicht fragt ihr in der Stadt nach. Groß genug ist sie ja.«
»Von da kommen wir gerade«, sagte Abu Dun. »Wir suchen seit einer Woche nach ihr. Niemand hat sie gesehen.«
»Nun, wie dem auch sei.« Scalsi hob betont beiläufig die Schultern und senkte die Feder wieder auf das Papier. »Für Unterbringung und Pflege Eures Sohnes ist vorerst bezahlt, und selbstverständlich könnt Ihr jederzeit kommen, um ihn zu besuchen. Und wenn die Herren mich jetzt entschuldigen würden. Ich habe noch zu arbeiten.«
Kapitel 5
Die Dämmerung senkte sich bereits wieder über die Stadt, als sie das Gasthaus erreichten. Jetzt, im Januar, waren die Tage kurz, und im gleichen Maße, in dem sich der Himmel grau färbte, wurde es kälter. Von dem von Abu Dun prophezeiten Schnee war immer noch nichts in Sicht, aber ihr Atem erschien nun auch hier draußen als grauer Dunst in der Luft. Andrejs Fingerspitzen und Gesicht prickelten vor Kälte, sodass er erleichtert aufatmete, als sie die Gaststube betraten. Das Licht war so trüb und die Luft so schlecht, wie Andrej es in Erinnerung hatte, aber es war wenigstens warm.
Das Schankzimmer war ungewohnt gut gefüllt. Drei der vier Tische, die in dem engen Raum gerade noch Platz hatten, waren besetzt. Als sie eintraten, wandte sich ihnen fast ein Dutzend Gesichter zu, und für einen Moment wurde es vollkommen still. Die Blicke meidend, deutete Andrej nur ein knappes Nicken in die Runde an und schlug seinen Mantel zurück, während sie den einzigen frei gebliebenen Tisch ansteuerten – den, an dem Abu Dun und er immer zu sitzen pflegten, als hätte der Wirt ihn eigens für sie frei gehalten.
Das allgemeine Geschnatter und Lachen der Zecher hob wieder an, als sie sich setzten, und Andrej verzichtete ganz bewusst darauf, auch nur ein einziges Wort verstehen zu wollen. Dennoch kam er nicht umhin zu bemerken, dass sich die meisten Gespräche (und auch die eine oder andere abfällige Bemerkung) nur um den Nubier und ihn drehten, von ebenso scheuen wie abfälligen Blicken ganz zu schweigen, mit denen sie bedacht wurden. Er ignorierte beides, hob die Hände vor den Mund, um seine Fingerspitzen mit seinem Atem aufzuwärmen, und wollte den Wirt an den Tisch winken, doch der Mann kam ihm zuvor, indem er bereits zwei Krüge Bier brachte, auf dem sogar noch Schaum war – soweit sich Andrej erinnerte, das erste Mal, seit sie in diese Nobelherberge gezogen waren.
»Und ich dachte schon, Ihr kommt nicht mehr«, sagte er. »Gerade an einem Tag wie heute. Wo ist Eure entzückende Begleitung, Andrej? Kommt sie noch nach? Soll ich einen dritten Krug bringen?«
»Sie hatte noch zu tun«, antwortete Abu Dun knapp.
Tatsächlich hatte Corinna sie nur noch einige wenige Schritte weit begleitet, bevor sie sich unter einem fadenscheinigen Vorwand verabschiedet hatte und in dem Labyrinth schmaler Gässchen des Arsenal verschwunden war, was Andrej mit einer Mischung aus Bedauern und Erleichterung registriert hatte. Erleichterung, weil er jetzt einfach hatte allein sein wollen und selbst Abu Duns Nähe nur schwer akzeptierte. Bedauern, weil er eine Menge Fragen über den Dottore und sein bizarres Spital hatte, die er ihr nur zu gerne gestellt hätte.
»Zweifellos«, bestätigte der redselige Wirt mit einem anzüglichen Grinsen, aber auch mit beiden Händen auf die Krüge deutend. »Lasst es euch schmecken! Das geht aufs Haus. Und alles andere auch, was ihr heute noch
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