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Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod

Titel: Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wlofgang Hohlbein
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sogar noch auf die Spitze, indem er eine Zeit lang in dem Papierberg vor sich grub und eine von zahlreichen Schubladen seines Schreibtisches öffnete, um ein einzelnes Blatt herauszunehmen, das er so eingehend studierte, als hätte er nicht nur ganz vergessen, dass er nicht allein war, sondern als hinge sein Leben davon ab.
    »Andrej Delãny und Abu Dun«, sagte er schließlich, bedachte sie beide mit einem sehr langen, prüfenden Blick und legte das Blatt dann in die Schublade zurück. »Die Beschreibung scheint zu stimmen, die Euer Freund mir gegeben hat … wie war doch gleich sein Name? Ihr wisst, wen ich meine. Diesen großen Burschen mit dem blonden Haar.«
    »Sein Name ist Meruhe«, antwortete Andrej, »und er ist eine große Frau mit rotem Haar und einer Haut, die ebenso schwarz ist wie die Abu Duns.«
    »Und ihre beiden Dienerinnen sehen genauso aus«, fügte Abu Dun hinzu. »Nur ohne Haare.«
    Zum allerersten Mal erschien die Andeutung eines Lächelns auf Scalsis Lippen, wenn auch nur, um genauso rasch wieder zu erlöschen. »Ihr seid anscheinend wirklich die, die Eure Freundin mir avisiert hat.«
    »Habt Ihr daran gezweifelt?«, fragte Abu Dun.
    »Ich kenne Euch nicht«, erwiderte Scalsi gelassen. »Man hat mir zwei Fremde angekündigt, auf die Eure Beschreibung zu passen scheint. Einen großen Mann mit einer auffälligen Tätowierung und einen Schwarzen, der größer ist als der Dom der Markuskirche. Aber ich habe auch strikte Anweisung erhalten, Eure Identität zu verifizieren.«
    »Wer was?«, fragte Abu Dun.
    Corinna lachte leise, aber Scalsi tat ihm nicht den Gefallen zu lächeln. »Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, welches Geheimnis den armen Jungen wohl umgeben mag.«
    »Geheimnis?«, wiederholte Andrej. Hinter ihm bewegte sich Abu Dun unruhig, und auch Corinna sah auf und legte die Stirn in Falten.
    Scalsi lächelte ein freudloses Lächeln. »Viele unserer Schutzbefohlenen umgibt ein Geheimnis, das nichts mit dem zu tun hat, was ihrem Körper oder ihrer Seele zugestoßen ist, wenn Ihr versteht, was ich meine«, antwortete er umständlich.
    »Nein«, sagte Andrej. Plötzlich lag eine Spannung in der Luft, die von vollkommen anderer Art war als noch vor einem Augenblick. Ohne hinzusehen, wusste er, dass auch Corinna aufmerksam in ihre Richtung blickte.
    »Dies ist nicht nur eine Heimstatt für die, die krank im Geiste sind«, antwortete Scalsi. »Ich habe Euch den bedauernswerten Giacomo gezeigt, und es gibt noch andere wie ihn – arme Menschen, denen Gott eine harte Prüfung auferlegt hat. Wenigstens würde Schwester Innozenz es so ausdrücken. Die Krankheit mancher unserer Patienten besteht einzig und allein darin, zur falschen Zeit und von der falschen Mutter geboren worden zu sein, oder vom falschen Vater gezeugt. Wenn Ihr versteht, was ich meine. Euer Sohn wurde mir anvertraut.«
    »Wofür Ihr äußerst großzügig entlohnt wurdet, nehme ich an.«
    »Zweifellos«, antwortete Scalsi und schüttelte den Kopf. Andrej hatte das unheimliche Gefühl, dass diese Bewegung eine Entsprechung in den Schatten fand, wie ein lautloses Huschen. »Aber es geht nicht um Geld … nicht nur jedenfalls. Mich fasziniert die Krankheit Eures Sohnes.«
    »Fasziniert?«, wiederholte Abu Dun. In seiner Stimme schwang eine Drohung mit.
    »Vom rein wissenschaftlichen Standpunkt aus«, sagte der Arzt rasch. »Sagt mir, Andrej: Ist er wirklich Euer Sohn?«
    »Weil er mir so wenig ähnlich sieht?« Andrej fragte sich, was Scalsi einfiel, ihm eine solche Frage zu stellen. Und wieso er sich überhaupt auf dieses Gespräch einließ. Vielleicht wahrte er nur noch die Fassung, weil Corinna bei ihnen war und er ihre bohrenden Blicke spürte.
    »Ich habe den Jungen gründlich untersucht«, antwortete Scalsi. »Und ohne Euch zu nahe treten zu wollen, Andrej – aber als Arzt fällt es mir schwer zu glauben, dass dieser Knabe wirklich Euer leiblicher Sohn ist, vor allem jetzt, wo ich Euch vor mir sehe.«
    »Ach?«
    »Er ist ein vollkommen anderer Typus als Ihr«, sagte Scalsi.
    »Seine Mutter kam aus dem Norden«, antwortete Andrej und fragte sich erneut, warum er diesem Mann Rede und Antwort stand.
    Überhaupt hatte sich Scalsi verändert in dem Moment, in dem sie das Zimmer betreten hatten. Missmutig und überheblich war er noch immer, doch wie er so hinter seinem gewaltigen Schreibtisch und der Wehrmauer aus Büchern und Papier saß, gab er Andrej das Gefühl, sich in einen armen Sünder verwandelt zu haben, der vor den

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