Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
Menschen in blanker Todesangst geklungen, und genau den dazu passenden Ausdruck las er auch auf dem Gesicht der Frau, die vor ihm stand. Genauer gesagt stand sie sogar ein Stück über ihm, versuchte mit rudernden Armen ihr Gleichgewicht zu halten und hätte sich vermutlich im nächsten Augenblick den Hals gebrochen, wäre Abu Dun nicht endlich aus seiner Starre erwacht und hätte sie von dem Stuhl heruntergehoben, auf den sie in ihrer Panik gesprungen war. Etwas floh auf schnellen Pfoten vor ihnen, und Andrej sah gerade noch einen rosafarbenen nackten Schwanz hinter dem Herd verschwinden.
»Eine Ratte?«, fragte er erstaunt.
»Die … die größte Ratte, die ich … die ich jemals zu Gesicht bekommen habe!«, stammelte die Frau. »Und sie hat mich angegriffen!« Sie zitterte noch immer am ganzen Leib. Andrej konnte ihre Furcht riechen.
»Hat sie dich gebissen?«, fragte er.
»Nein!« Die Frau schüttelte heftig den Kopf und maß ihn zugleich mit einem Blick, als hätte er ihr ein ehrenrühriges Angebot gemacht. »Aber das hätte sie, wenn ich mich nicht auf den Stuhl gerettet hätte! Ganz gewiss! Ich habe es in ihren Augen gelesen!«
»Red keinen solchen Unsinn, Weib!« Der Wirt drängte sich hinter Abu Dun herein und sah sich alarmiert um, wirkte zugleich aber auch verstimmt. Hinter ihm erschienen weitere neugierige Gesichter, und Andrej warf die Tür kurzerhand ins Schloss. »Es war nur eine Ratte! Die gibt es überall!«
Und vor allem in dieser Küche, dachte Andrej. Mit wenigen Schritten ging er um den Herd herum und hielt ohne große Hoffnung nach der Ratte Ausschau, die die arme Frau so erschreckt hatte, aber natürlich war sie verschwunden. Dafür sah er mehr von der Küche, als ihm lieb war. Es tat ihm jetzt noch weniger leid, Abu Dun sein Bier überlassen zu haben.
»Aber ich sage die Wahrheit!«, protestierte die Frau mit einem Unterton von Hysterie. »Sie hat mich angesehen! Ich meine nicht einfach nur so oder zufällig, sondern … als hätte sie es auf mich abgesehen! Sie wollte meinen Tod, das konnte ich in ihren Augen lesen! Gewiss hätte sie mich umgebracht, wenn diese beiden tapferen Männer nicht gekommen wären! Mein eigener Mann befand es ja nicht für nötig, mich zu verteidigen!«
»Jetzt reicht es aber, Weib!«, fuhr ihr Mann sie an. »Geh und schau, ob du irgendeine nützliche Arbeit findest, statt unsere Gäste mit deinem Unsinn zu erschrecken!«
»Das ist kein Unsinn!«, behauptete seine Frau. »Das war keine normale Ratte! Kein Tier hat solche Augen, das weiß ich! Gewiss hat der Teufel selbst sie geschickt!«
»Allerhöchstens wenn er schon einmal von deinem Essen probiert hat«, polterte der Wirt. »Und jetzt verschwinde, Weib, bevor ich es mir anders überlege und dir die Tracht Prügel verabreiche, die dir zusteht! Scher dich nach draußen und kümmere dich um die anderen Gäste!«
Sie ging, und der Mann wandte sich entschuldigend an Andrej. »Bitte verzeiht. Sie ist ein hysterisches Weib, ich weiß.«
»Sie ist nicht die Einzige, die Angst vor Ratten hat«, sagte Abu Dun, und der Mann pflichtete ihm mit einem heftigen Nicken bei und schüttelte dann beinahe noch heftiger den Kopf.
»Es hat schon immer viele gegeben, aber seit einer Weile sind sie zu einer richtigen Plage geworden!« Er sah sich missmutig um, lachte unecht und blickte dann zuerst Abu Dun und danach Andrej Beifall heischend an, begriff irgendwann, dass er diesen nicht bekommen würde, und wollte weiterreden, als aus der Gaststube aufgeregte Stimmen drangen, am lautesten die seiner Frau. Unverzüglich ergriff er die Gelegenheit, das immer unangenehmer werdende Gespräch zu beenden, und stürmte hinaus. Andrej setzte dazu an, ihm zu folgen, doch Abu Dun legte ihm rasch die Hand auf die Schulter.
»Die Ratte«, sagte er.
»Was soll damit sein?«, fragte Andrej, als der Nubier nicht weitersprach, sondern ihn nur besorgt ansah. »Hat sie Rauch und Schwefel gespuckt, oder hatte sie ein umgedrehtes Kreuz auf der Stirn?«
Abu Dun blieb ernst. »Die arme Frau ist vielleicht nicht ganz so hysterisch, wie ihr Mann behauptet«, sagte er. »Ich habe das Vieh gesehen. Irgendetwas stimmte wirklich nicht mit ihm!«
Er hielt anklagend den Zeigefinger in die Höhe, und jetzt war es Andrej, der erstaunt die Augen aufriss. Die dazugehörige Wunde war längst wieder verschwunden, aber auf Abu Duns Fingerkuppe glänzte ein einzelner dunkelroter Blutstropfen.
»Sie hat dich gebissen?« Andrejs Grinsen verschwand wie
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