Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
weggezaubert. Er kannte Abu Dun gut genug, um zu wissen, dass sein plötzlich besorgter Ton nicht gespielt war. Den Kratzer konnte er kaum gespürt haben, doch das war nicht der Grund für seine Besorgnis.
»Immerhin hat sie dir nicht gleich den Arm abgerissen.«
»Die Frau sagt die Wahrheit«, antwortete Abu Dun. »Die Ratte hat sich …«
Er suchte nach Worten, hob aber dann nur die Schultern und wedelte anklagend mit dem blutigen Finger. »… merkwürdig verhalten. Nicht richtig. Ich habe es ja gar nicht richtig sehen können, aber es kam mir auch so vor, als hätte dieses Vieh einfach nur dagestanden und sie lauernd angestarrt. So etwas tun Ratten nicht. Sie beobachten keine Menschen, um sie dann anzugreifen – wenn sie sich bedroht fühlen, flüchten sie lieber.«
»Vielleicht war sie krank«, vermutete Andrej.
»Ja, vielleicht«, sagte Abu Dun, doch zögernd und nicht, als würde er wirklich daran glauben.
Kapitel 6
Diesmal war der Traum anders. Auch in dieser Nacht träumte er wieder von Marius. Es begann wie immer: Er war auch jetzt wieder im Borsatal und hatte in stummer Verzweiflung dagesessen und um seinen Sohn geweint, und auch jetzt stand er irgendwann auf, um zu seinem Pferd zu gehen, und machte auf halbem Weg wieder kehrt, als er ein Geräusch hörte und sich gegen einen Schrecken wappnete, gegen den er sich nicht wappnen konnte, hatte er ihn doch in schon so vielen Nächten heimgesucht, ohne auch nur einen Deut an Stärke zu verlieren.
Er beobachtete, wie sich das schäbige Holzkreuz zur Seite neigte, das er mit eigenen Händen zusammengebaut hatte, wie die furchtbare Gestalt aus dem Grab kroch und auf ihn zuwankte, und auch jetzt hörte er wieder die entsetzlichen Worte, die sich wie ätzende Säure in seine Seele brannten und Narben darauf hinterließen, die nie ganz verheilen würden.
Warum hast du mir das angetan, Vater?
Aber ich habe es doch nicht gewusst, wimmerte er. Wie hätte ich es denn wissen können?
Der Traum sollte jetzt enden. Aber er tat es nicht. Etwas geschah, ein weiterer Schritt dorthin, wo der Wahnsinn wohnte. Heute ging der Traum weiter. Als sein Sohn näher kam, zerfloss sein Gesicht zu einer grotesken Verhöhnung jeglichen menschlichen Antlitzes, grauenhafter noch, als jeder Albtraum es sein durfte. Maden regten sich unter seiner Haut, krochen zusammen und bildeten dicke Geschwüre und Pusteln, die mit einem widerlichen Geräusch platzten und den Gestank von Verwesung freisetzten und von dickflüssigem Eiter, der wie widernatürliche Tränen über das verheerte Antlitz lief. Geschmolzenes Fleisch tropfte von seinen Händen und Armen und gab den Blick auf bleiche Knochen frei, die schon brüchig zu werden begannen.
Sieh, was du mir angetan hast, Vater!
Die Hände kamen näher, und er wollte zurückprallen, schreien, laufen, irgendetwas tun, denn er wusste mit vollkommener Sicherheit, dass er sterben würde, wenn diese grässlichen Hände ihn berührten, sowohl hier im Traum als auch in der realen Welt. Doch er war zu keiner Regung fähig. Selbst seine Stimme verweigerte ihm den Dienst.
Sieh dir an, was du mir angetan hast. Deinem eigenen Sohn. SIEH ES DIR AN!
Andrej hatte dem Willen des Knaben nichts entgegenzusetzen. Er wollte es nicht. Er wollte nicht wissen, was die Zeit und er selbst seinem Kind angetan hatten, aber sein Widerstand brach zusammen, er sah hin und schrie so gellend auf, dass dieser Schrei allein genügte, die Fesseln des Albtraums zu sprengen und ihn in die Wirklichkeit zurückzuspeien.
Mit einem Schrei fuhr er hoch, versuchte vergeblich, zu atmen und einen klaren Gedanken zu fassen, und sank wieder auf die Seite. Etwas zerbrach. Rings um ihn erlosch die Wirklichkeit, und schwarze Schatten lieferten sich ein verbissenes Ringen, aber der Traum gewann – wenigstens im allerersten Moment. Er ließ ihn nicht los. Die Stimme war fort, aber er spürte noch immer den Blick dieser erloschenen Augen, und statt eines wandelndem Golems aus brodelnder Verwesung sah er sich einer zusammengesunkenen Gestalt auf einem harten Bett gegenüber, mit Ketten an die Wand gebunden und in einem anderen Gefängnis, dessen Wände härter waren, schwärzer und erstickender und unüberwindlicher.
Andrej zog die Knie an den Leib, umschlang sie mit beiden Armen und begann leise zu wimmern. Schweiß bedeckte nicht nur seine Stirn, sondern seinen ganzen Körper, und tief in ihm wühlte der Schmerz. Die Luft stank so faulig, dass er nicht mehr richtig atmen konnte, und da
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