Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
war ein Klirren und Scharren wie von silberfarbenen Ketten, die sich in weiches Fleisch scheuerten, und eisenharten Krallen, die über Stein scharrten. Er schmeckte Blut. Das stumme Ringen von Traum und Wirklichkeit ging weiter, und Andrej spürte mit entsetzlicher Klarheit, wie die Vision endgültig die Oberhand zu gewinnen begann und ihn weiter und weiter auf den Rand eines bodenlosen schwarzen Abgrundes zuzerrte, aus dem es kein Entkommen mehr geben würde. Hätte er die Wahl gehabt, zu leben oder zu sterben, er hätte den Tod gewählt. Aber nicht einmal dieser Ausweg blieb ihm.
»Seid Ihr wach, Herr?«
Andrej drehte mit einem so heftigen Ruck den Kopf, dass die schmale Gestalt in der Tür erschrocken zurückprallte. Die Angst, die immer noch in ihm wühlte, benebelte seinen Blick, sodass ihr Gesicht zerfloss, zu einer Fratze aus eiterndem Fleisch wurde, mit Augen wie schwarze Feuerräder, und unter ihren Umrissen bewegte sich etwas anderes, wie zusätzliche haarige Gliedmaßen, die Gestalt annehmen wollten und es dann doch nicht konnten. Sieh es dir an! So lange! So unendlich lange!
Mit einer gewaltigen Willensanstrengung drängte Andrej den Horror zurück, und aus der Schreckensgestalt im Türrahmen wurde der schmale Umriss der Wirtin, die sich nur deshalb nicht den Schädel am niedrigen Türsturz anschlug, weil sie ihm mit einer Bewegung auswich, die ihr schon vor einem halben Menschenleben in Fleisch und Blut übergegangen war. Er konnte hören, wie schnell ihr Herz schlug. Sie war der Panik nahe.
»Ich … ich habe geklopft, aber Ihr habt nicht geantwortet.«
»Schon gut«, murmelte Andrej. Seine Stimme war undeutlich, weil sich seine Zunge immer noch weigerte, seinem Willen ganz zu gehorchen, war sie doch nicht mehr als ein Klumpen aus faulendem Fleisch in seinem Mund.
Andrej begriff die Gefahr, sich endgültig in dem Albtraum zu verlieren, verscheuchte die Schreckensvision mit einer gewaltigen Willensanstrengung und atmete tief ein. Die Luft schmeckte immer noch ein wenig faulig, und er hatte das Gefühl, seine Lungen und seine Kehle mit etwas Klebrigem zu besudeln, wie ein letzter Gruß des Albtraumes. Doch das war nichts gegen das Entsetzen zuvor.
»Entschuldigt«, sagte er, immer noch ein wenig atemlos. Sein Puls raste. »Ich wollte Euch nicht erschrecken. Es ist alles in Ordnung.«
Er bekam keine Antwort, aber er spürte den Zweifel in ihrem Blick und fügte hinzu: »Ein schlechter Traum.«
»Ich dachte, dass … dass ich etwas gehört hätte«, sagte die Wirtin ausweichend, und mit einer Stimme, die kaum mehr als ein erschrockenes Flüstern war. »Geräusche. Schreie vielleicht. Aber … aber ich muss mich wohl getäuscht haben.«
»Nein, das habt Ihr nicht.« Andrej wollte aufstehen, besann sich gerade noch rechtzeitig darauf, dass er unter der zerschlissenen Decke nackt war, und sah stattdessen in ihre Richtung. »Wie gesagt: Ich muss wohl einen Albtraum gehabt haben. Wirres Zeug, aber schlimm.«
»Das tut mir leid«, sagte die Wirtin, ebenso verlegen wie ehrlich. Nervös fuhr sie sich mit dem Handrücken über das Kinn und wusste mit einem Male nicht mehr, wohin mit ihrem Blick. »Verzeiht!«
»Da gibt es nichts zu verzeihen. Ihr habt mir einen Gefallen getan, als Ihr mich aufwecktet.« Andrej sah zu dem schmalen Fenster über seinem Kopf hoch und stellte ohne besondere Überraschung fest, dass draußen noch finstere Nacht herrschte. Kein einziger Stern war am Himmel zu sehen. Trotzdem fügte er hinzu: »Ich wollte ohnehin nicht so lange schlafen.«
Am liebsten hätte er nie wieder geschlafen. Nicht jetzt, wo er wusste, was auf der anderen Seite, in seinen Träumen, auf ihn wartete. Aber woher hätte er es wissen sollen?
»Es ist … Mitternacht, Herr«, antwortete die Wirtin verstört.
»Ich weiß«, log Andrej. »Aber ich brauche nicht viel Schlaf.«
Mitternacht? Er sah sich in der winzigen Dachkammer um. Wo war Abu Dun?
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte die Wirtin: »Euer Freund wartet unten auf Euch. Er hat mich geschickt. Da … ist jemand, der mit Euch sprechen will.«
Jetzt? Andrej sah wieder zu Tür hin und versuchte, im Gesicht der Frau zu lesen. Es war zu dunkel dazu, doch so, wie sie die Worte gesprochen hatte, vermutete er, dass dieser Jemand kein gern gesehener Gast in ihrem Haus war. Er nickte aber nur wortlos, richtete sich weiter auf und sah sie so lange stumm an, bis sie endlich begriff und die Tür hinter sich ins Schloss zog.
Andrej blieb reglos
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