Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
Jackentasche, als hätte er ihn weggezaubert.
»Bringst du uns hin?«, fragte er.
»Wir bringen euch hin«, sagte Corinna an seiner Stelle. »Der Junge hat mir sein Vertrauen geschenkt, und ich passe auf ihn auf.«
»Wie du meinst.« Andrej stand auf. »Ist es weit?«
»Im Arsenale« ,antwortete Corinna. »Nicht einmal weit vom Spital des Dottore entfernt. Aber wir werden zu Fuß gehen müssen. So spät in der Nacht bekommen wir kein Boot mehr.«
»Ein Spaziergang in einer lauen Sommernacht und noch dazu in angenehmer Begleitung«, knurrte Abu Dun. »Was will man mehr?«
In den zurückliegenden vier Tagen waren sie diesen Weg täglich gegangen, aber niemals war er ihm so weit vorgekommen und niemals so … unwirklich. Allein ihre beschränkten Mittel hatten es ihm verboten, ein Boot zu mieten und die örtlichen Wucherpreise zu zahlen, die nicht nur (zumindest für Ausländer) exorbitant hoch waren, sondern auch noch mit jedem Tag höher kletterten, den der Carnevale näher kam. So waren sie zu Fuß gegangen und hatten als kleine Dreingabe einmal mehr die sonderbare Feindseligkeit zu spüren bekommen, die ihnen die Menschen in dieser Stadt entgegenbrachten: finstere Blicke und ein böses Getuschel hinter ihrem Rücken, das vor allem Abu Dun galt. Davon war jetzt nichts mehr zu spüren, doch der Marsch in das Arbeiter- und Hafenviertel gestaltete sich auch jetzt kein bisschen erbaulicher; fast hatte die Stadt selbst nun die Rolle ihrer Bewohner übernommen, um sie ihre Ablehnung spüren zu lassen. Die Dunkelheit zwischen den schmalbrüstigen Häusern kam ihm tiefer vor, als sie sein sollte, ihre Schritte erzeugten zu laute und zu lang nachhallende Echos, und er meinte, die Gegenwart von … etwas zu spüren, das in den Schatten lauerte und sie aus gierigen Augen beobachtete. Natürlich wusste er: Da war nichts, abgesehen vielleicht von ein paar Ratten oder einer Katze, die Jagd auf diese machte – und selbst wenn da etwas gewesen wäre, so gab es in der ganzen Stadt vermutlich nichts, was Abu Dun und ihm wirklich gefährlich werden konnte.
Doch mit jedem Schritt fühlte er sich unwohler. Er begann zu ahnen, was es hieß, die Dunkelheit zu fürchten, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben. Und diese Erkenntnis war vielleicht noch beunruhigender als die Dunkelheit selber.
Sie mussten eine Unzahl Brücken überqueren, die schmaler und auch schäbiger wurden, je weiter sie sich dem Arsenale näherten, und am Schluss wichen sie auch von der Strecke ab, die Abu Dun und er zum Palazzo Stronzo genommen hatten, was Andrej aber nicht verwunderte – schließlich lebte der Junge hier und kannte sich in den schmalen Sträßchen besser aus.
Nach einer Weile aber fiel ihm auf, dass weder Corinna noch Balean auch nur mit einem Wort erwähnt hatten, wohin sie gingen – aber was immer ihr Ziel war, sie näherten sich ihm nicht auf dem kürzesten Weg, sondern folgten dem lang gestreckten Bogen, den die Uferstraße beschrieb – wenn man das zerbröckelnde Band aus jahrhundertealtem Kopfsteinpflaster denn Straße nennen wollte. Bevor Andrej den Jungen fragen konnte, kam ihm Abu Dun zuvor. »Wohin führst du uns eigentlich, Bürschchen?«, knurrte er.
»Zu Enrico, meinem Onkel«, antwortete der Junge. »Ihr wolltet doch mit ihm sprechen, oder?«
»Werd nicht frech, Junge!«, polterte Abu Dun. »Wir kennen den Weg, und das ist auf jeden Fall nicht der kürzeste!«
»Aber der sicherste«, antwortete Balean, indem er Abu Dun einen unsicheren Blick über die Schulter hinweg zuwarf. »Und der sauberste. Ich will nicht, dass sich die Signorina ihr kostbares Kleid ruiniert. Und Ihr Eure teuren Schuhe.«
Abu Dun blickte finster, und Andrej hatte Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken. Allmählich begann ihm der Junge zu gefallen.
»Wir sind auch schon da.« Balean blieb stehen und zeigte mit flatternder Hand in die Dunkelheit vor sich.
»Hier?«, wiederholte Abu Dun zweifelnd, bekam aber keine Antwort, denn Balean war bereits so lautlos wie ein Schatten verschwunden. Selbst Corinna wirkte verdutzt.
Andrej konnte den zweifelnden Blick des Nubiers durchaus verstehen. Wäre die Nacht nicht so schwarz und mondlos gewesen, hätten sie die Turmruine des Dottore von hier aus vermutlich sehen können. Jetzt erstreckte sich links von ihnen nur die endlose schwarze Wasserebene der Lagune, und in den drei anderen Richtungen umgaben sie die schwarzen Silhouetten größtenteils leer stehender Gebäude. Es war nahezu vollkommen still, und
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