Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
aus.«
Andrej musste sich beherrschen, um ihm nicht die Faust ins Gesicht zu schlagen, und hätte Corinna nicht in diesem Moment etwas zu Balean gesagt, hätte er es vielleicht sogar getan.
So ließ er sich abermals in die Hocke sinken und sah den Jungen an. Er beging nicht den Fehler, noch einmal die Hand auszustrecken oder auch nur irgendetwas zu tun, was dem Kind als bedrohlich erscheinen konnte.
»Nimm es ihm nicht übel!«, sagte er unbeholfen. »Die Frau, von der du erzählt hast, ist eine gute Freundin von ihm. Er macht sich große Sorgen um sie, und deshalb ist er ein bisschen nervös, verstehst du?«
Balean starrte ihn nur aus Augen an, die noch einmal größer geworden zu sein schienen und jetzt vollkommen schwarz vor Angst waren, aber Corinna sagte: »Ich habe zwei Tage gebraucht, um Balean zu finden, Andrej. Und Stunden, um ihn davon zu überzeugen, dass er euch vertrauen kann.« Sie funkelte zuerst Abu Dun, dann – beinahe noch zorniger – ihn an. »Vielleicht war das ja ein Fehler.«
Andrej lächelte den Jungen beruhigend an, richtete sich dann wieder auf und bemühte sich um einen möglichst ruhigen Ton, als er sich zu Abu Dun umdrehte. Zugleich wechselte er wieder in eine Sprache, die weder Corinna noch der Junge verstanden. Doch seine Worte waren nicht so sanftmütig wie sein Ton.
»Jetzt reiß dich zusammen, Pirat, oder verschwinde, und ich rede allein mit dem Jungen! Was ist los mit dir? Willst du nicht, dass wir sie finden?«
»Schon wieder ein Zufall, wie?«, spottete Abu Dun. »Unglaublich! Man sollte ein neues Wort dafür erfinden, meinst du nicht?«
Statt auf den Spott des Nubiers zu reagieren, wandte sich Andrej wieder nach dem Jungen um. »Du weißt also, wo unsere Freundin ist?«
Der Junge starrte ihn nur weiter an.
»Es tut mir wirklich leid, Balean«, sagte er. »Abu Dun ist sonst nicht so, glaub mir.«
»Ich nehme an, sonst benimmt er sich noch schlimmer«, sagte Corinna spitz. Sie schnaubte zornig, aber ihre Hände blieben auf Baleans Schultern liegen, und Andrej war nicht sicher, ob es wirklich nur eine beruhigend gemeinte Berührung war. »Der Junge weiß nicht, wo eure Freundin ist, und wenn sein Vater wüsste, dass er hier ist, würde er ihn wahrscheinlich halb totprügeln. Und so dankt ihr es ihm?« Und mir, fügte ihr Blick hinzu.
»Wenn er nichts weiß, warum ist er dann hier?«, fragte Abu Dun.
»Weil er jemanden kennt, der mit dieser Frau gesprochen hat.«
»Ist das wahr?«, fragte Andrej.
Balean nickte. Er schwieg weiter, und Andrej spürte, dass er längst weggelaufen wäre, hätte Corinna ihn nicht festgehalten.
»Und noch ein richtig großer Zufall«, sagte Abu Dun. Corinna ignorierte ihn, ebenso wie Andrej.
»Ich habe ihm versprochen, dass ihm nichts passiert«, sagte Corinna, »und dass niemand erfährt, dass er mit euch gesprochen hat.« Sie machte ein ärgerliches Gesicht. »Und dass er eine Belohnung bekommt.«
»Allzu groß wird sie nicht ausfallen«, murrte Abu Dun.
»Du bekommst deine Belohnung«, sagte Andrej rasch. »Und ich verspreche dir, dass niemand erfährt, dass du mit uns gesprochen hast.«
Der Junge warf einen fast flehenden Blick in Corinnas Gesicht hinauf. Erst als sie ihm mit einem aufmunternden Lächeln zunickte, sah er Andrej wieder an.
»Du hast diese Frau also gesehen«, sagte der.
»Zwei«, antwortete der Junge. »Es waren zwei, aber ich habe nicht mit ihnen gesprochen.«
»Aber du weißt, wer mit ihnen gesprochen hat?«, fragte Andrej.
»Und worüber?«, fügte Abu Dun hinzu.
»Mein Onkel«, antwortete Balean nervös. »Onkel Enrico. Ich weiß nicht, worum es ging, aber er war sehr wütend, als sie wieder weg waren. Und ich … ich glaube, er hatte auch ein bisschen Angst.«
»Wann war das?«, fragte Andrej.
Balean hob unglücklich die Schultern. »Es ist schon lange her«, sagte er stockend.
So ungefähr ein halbes Jahr, vermutete Andrej. Für ein Kind in seinem Alter tatsächlich eine sehr lange Zeit. Er überlegte kurz, dann fragte er: »Bringst du uns zu deinem Onkel Enrico?«
Balean schwieg.
»Ich verrate ihm nicht, was du uns erzählt hast«, sagte Andrej.
Balean starrte ihn weiter an, und endlich begriff er. Mit einem lautlosen Seufzen löste er den Geldbeutel von seinem Gürtel und hielt ihm den Jungen hin. Viel war ohnehin nicht mehr darin, aber alles, was sie noch besaßen. Aus den Augenwinkeln sah er Abu Duns verärgertes Stirnrunzeln, dann verschwand der Beutel auch schon so schnell in Baleans
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