Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
paar Augenblicke?
Andrej warf all seine Bedenken über Bord, drückte sich auf den linken Ellbogen hoch und griff mit der anderen Hand nach der Forke, deren Spitzen nur noch einen Fingerbreit von seinen Augen entfernt waren. Mit einem Ruck entriss er sie ihrem Besitzer, schleuderte sie weg und stemmte sich noch ein Stück weiter in die Höhe, um ganz aufzustehen, doch auch dieses Mal gelang es ihm nicht. Enrico starrte zwar fassungslos auf seine plötzlich leeren Hände, aber einer der anderen Männer reagierte dafür umso schneller und trat ihm gegen die Kehle, sodass ihm die Luft wegblieb und er würgend zurücksank. Hinter ihm richtete sich Abu Dun wie ein zorniger Bär zu seiner vollen Größe auf und hob auch ganz wie ein solcher beide Arme – zweifellos, um den erstbesten Mann zu packen und einfach in Stücke zu reißen. Etwas Dunkles und irgendwie Rauchiges senkte sich über ihn und zerrte ihn abermals zu Boden.
Es war ein Netz, das gleich drei Männer mit vereinten Kräften herbeigeschleppt und mit dem Mut der Verzweiflung über ihn geworfen hatten. Unter normalen Umständen hätte es ihn vermutlich nicht einmal große Anstrengung gekostet, es einfach zu zerreißen, aber Abu Dun war angeschlagen, fast von Sinnen vor Wut und desorientiert. Statt sich zu befreien, verstrickte er sich immer nur noch tiefer in die engen Maschen, und seine Gegner ließen ihm keine Zeit, wieder zur Besinnung zu kommen. Ein halbes Dutzend weiterer Kolbenstöße prasselte auf ihn herab, selbst dann noch, als er längst aufgehört hatte, sich zu bewegen. Weitere Männer schleppten Seile herbei, mit denen sie den Nubier zusätzlich fesselten, dann wurde er von gleich vier Männern gepackt und zum Kai geschleppt, wo sie ihn ohne das mindeste Zögern ins Wasser warfen. Andrej konnte hören, dass er wie ein Stein unterging.
»Und jetzt zu dir!« Enrico zerrte ihn auf die Füße, stieß ihn gegen die Wand und griff dann mit beiden Händen zu, als Andrej sofort wieder in die Knie ging. »Wer ist dieser Kerl – der Teufel persönlich? Und was hast du mit ihm zu tun?«
Er schlug ihm ins Gesicht, und Andrej war sich sicher, dass er das auch weiter tun würde, ganz egal was er antwortete. Also nahm er noch zwei oder drei weitere Hiebe hin, verdrehte die Augen und ließ sich an der rauen Wand in seinem Rücken zu Boden sinken, als Enrico seinen Griff ein wenig lockerte. Prompt traf ihn ein weiterer Fußtritt in die Seite, und wahrscheinlich wäre auch noch mehr und Schlimmeres gefolgt, hätte sich in diesem Moment nicht eine scharfe Stimme eingemischt: »Hört sofort damit auf!«
Noch ein weiterer Schlag traf ihn, diesmal ins Gesicht und so hart, dass seine Ober- und Unterlippe aufplatzten und er erneut sein eigenes Blut schlucken musste, dann geschah für die Dauer von zwei oder drei Herzschlägen gar nichts, bis er eine sachte Berührung auf der Wange fühlte. Als er die Augen aufschlug, blickte er in ein schmales Gesicht, das eine erschreckende Ähnlichkeit mit dem seines Sohnes hatte.
»Es tut mir leid, Andrej«, sagte Corinna. »Das wollte –« Sie brach ab, biss sich auf die Unterlippe und drehte dann schnell den Kopf, um zu Enrico hochzusehen. In ihren Augen flammte es wütend auf. »Was soll das? Er hat euch nichts getan!«
»Er gehört zu ihnen, oder?«, fragte Enrico.
»Sieht er etwa so aus?«, fuhr Corinna ihn an. »Heilige Mutter Gottes, was seid ihr – blind oder nur närrisch vor Rachedurst? Sieht er etwa schwarz aus?«
Enrico schwieg. Er sah trotzig aus, fand Andrej, aber auch ein wenig schuldbewusst. Aber es kostete ihn zu viel Kraft, bei Bewusstsein zu bleiben, um diesen Gedanken weiterzuverfolgen oder gar über Corinnas Worte nachzudenken.
»Es tut mir leid, Andrej«, sagte Corinna noch einmal und jetzt wieder an ihn gewandt. »Das alles ist … irgendwie außer Kontrolle geraten. So hätte es nicht enden dürfen.«
Andrej versuchte vergeblich zu verstehen, was sie meinte. Er hatte Schmerzen, und allein der Gedanke an das, was Abu Dun zugestoßen war, brachte ihn an den Rand der Panik; und auch die Vorstellung eines vor Wut schnaubenden Abu Duns, der sich gerade aus seinem nassen Grab befreite, trug nicht gerade zu seiner Beruhigung bei.
»Verschwindet«, murmelte er schwach. »Bringt euch … in Sicherheit!«
Verständnislos sah Corinna ihn mit großen Augen an, während Enrico für einen Moment nachgerade misstrauisch wirkte. Andrej drehte rasch den Kopf und suchte nach dem verletzten Jungen und seiner
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