Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
konnten. Hätten sie es mit Gegnern zu tun gehabt, die auch nur ein wenig Erfahrung in einem echten Kampf besaßen, dann hätte diese Geschichte ein wirklich böses Ende nehmen können, dachte Andrej, denn die Übermacht ihrer Feinde mochte sogar für ihn und Abu Dun zu groß gewesen sein. Aber es waren einfache Handwerker oder Fischer, die allenfalls Erfahrung in der einen oder anderen Wirtshausschlägerei hatten. Schon Abu Duns unerwartet heftiger Widerstand musste die meisten von ihnen so erschreckt haben, dass sie gar nicht erst auf die Idee kamen, ihre improvisierten Waffen einzusetzen, sondern ihr Heil lieber in der Flucht suchten. Was dem einen oder anderen vermutlich das Leben rettete.
Andrej sah rasch zu Balean hin, und aus seiner Erleichterung wurde schnell Entsetzen. Der Junge lag immer noch und auch noch immer in derselben Haltung, in der er gestürzt war. Gina kniete neben ihrem Sohn und versuchte ihn wach zu rütteln, wobei sie mit schriller Stimme immer wieder seinen Namen schrie.
»Hör auf damit!«, sagte Andrej. »Du wirst ihn nur noch mehr –«
Er vernahm ein erschrockenes Keuchen, und Andrej brach mitten im Wort ab und fuhr herum, die Hände hochgerissen und darauf gefasst, sich erneut zu verteidigen.
Er wurde nicht angegriffen, dafür bot sich ihm ein grausiger Anblick.
Nicht alle Angreifer waren geflohen. Gut die Hälfte der Männer hatte sich lediglich ein paar Schritte weit zurückgezogen und starrte entsetzt auf Abu Dun, der einen ihrer Kameraden gepackt und auf den Rücken geworfen hatte. Während er diesen mit dem linken Knie niederhielt, hatte er die rechte Hand mit gespreizten Fingern auf dessen Gesicht gepresst, als wollte er dessen Kopf in den Boden hineindrücken, aber Andrej wusste auch, was er wirklich tat.
Es dauerte eine Weile, bis er sich eingestehen wollte, was er da sah. Abu Dun wollte den Mann nicht umbringen, jedenfalls nicht so, wie Enrico und die anderen glauben mussten. Andrej sah das Blut auf der zerschnittenen Hand, mit der er verzweifelt um sich schlug und den schwarzen Koloss von sich hinunterzustoßen versuchte. Er konnte es riechen, und auch in ihm erwachte die uralte Gier, doch der lähmende Schrecken überwog.
Es war der Vampyr in Abu Dun, der erwacht war und der das Leben des Mannes nahm!
»Abu Dun!«, keuchte er entsetzt. »Was tust du da?« Dann schrie er, so laut er konnte: »Um Gottes willen, Pirat, hör auf!«, und warf sich mit aller Macht gegen den Nubier, um ihn von seinem wehrlosen Opfer herunterzuzerren.
Es war, als wäre er gegen einen Fels geprallt. Abu Dun gab nur ein unwilliges Knurren von sich, presste den Mann mit nur noch größerer Gewalt gegen den Boden und versetzte Andrej mit der anderen Hand einen Stoß, der ihn zwei Schritte weit zurück und gegen eine Wand schleuderte.
Etwas knallte. Eine winzige Wolke aus Staub und Blut explodierte aus Abu Duns Rücken, und ein tiefes, gepeinigtes Stöhnen entrang sich seiner Kehle. Der Nubier wankte, ließ aber immer noch nicht von seinem Opfer ab, und Andrej spürte sogar über die Entfernung hinweg, wie eine unsichtbare Macht in die Seele des Mannes hineingriff und nach seiner Lebenskraft tastete, um sie aus ihm herauszureißen und der des Vampyrs in Abu Dun hinzuzufügen.
Fast schon verzweifelt stieß Andrej sich von der Wand ab, um sich auf Abu Dun zu stürzen und ihn von seinem Opfer wegzuzerren, und möglicherweise wäre es ihm dieses Mal sogar gelungen, hätte ihn nicht in diesem Moment irgendetwas in der Seite getroffen und ihn zu Boden geschleudert. Er fiel, kam mit einer blitzartigen Rolle wieder auf die Beine und sah den Schatten einen Sekundenbruchteil zu spät. Ein Gewehrkolben traf ihn mit solcher Wucht im Gesicht, dass er zurück und erneut gegen die Wand taumelte und schließlich benommen in die Knie ging. Den Tritt gegen seinen Magen, der ihn endgültig zusammenbrechen ließ, spürte er kaum noch.
Andrej verlor nicht das Bewusstsein, nahm aber alles nur noch wie durch einen Vorhang aus dicker schwarzer Watte wahr. Schreie gellten. Wieder krachte ein Musketenschuss, und diesmal schrie der Nubier vor Schmerz auf, schlug beide Hände vor das Gesicht und kippte nach hinten, als sich gleich mehrere Männer auf ihn warfen.
Sie mussten aufhören, dachte Andrej verzweifelt. Selbst die Musketenkugeln würden den Nubier nur ein paar Augenblicke aufhalten, und wenn er erst wieder halbwegs bei Sinnen war, würde er wie ein Dämon über die ahnungslosen Männer kommen und ein Blutbad
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