Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
antwortete Andrej, so ruhig, wie er es gerade noch konnte. »Aber ich besuche ihn jetzt seit vier Tagen. Sie sagt die Wahrheit. Er leidet, wenn ich bei ihm bin.«
»Du tust ihm eben nicht gut«, witzelte Abu Dun. »Genau wie die Barmherzige Schwester es sagt. Vielleicht hörst du besser auf sie.«
Andrej funkelte ihn an, und Abu Dun schlug breit feixend vor: »Dann komm einfach nicht mehr her.«
Das machte Andrej wütend. Nicht, was er gesagt hatte, denn eine sarkastische Antwort hatte er von dem Nubier erwartet. Es war die Art, wie er es gesagt hatte. Ohne dass sich sein Tonfall änderte, war aus einem derben Scherz bitterer Ernst geworden.
Schon um Abu Dun nicht anzufahren, wechselte er das Thema und stellte ihm eine Frage, die er in Gegenwart Enricos und später Corinnas nicht zu stellen gewagt hatte. »Warum bist du zu den Fischern hinausgefahren? Wolltest du sie umbringen?«
»Wenn ich das gewollt hätte, dann wären sie jetzt tot«, erwiderte Abu Dun gelassen. »Ich wollte die Wahrheit wissen, und die haben wir auch erfahren.« Er zuckte mit den Schultern und stieß dabei mit dem Turban an die Zellendecke. Es raschelte, und das Geräusch schien in dem engen Raum seltsam lange in der Luft zu hängen, länger, als es sollte, wie ein Echo. »Das mit dem Hund tut mir leid.«
Andrej zog es vor, nichts darauf zu sagen. Vielleicht lag es an diesem Gebäude, versuchte er sich selbst einzureden. Dies war ein Ort, an dem Kranke wie Verstoßene gehalten wurden, vom Schicksal Gestrafte, deren Schmerzen niemand sehen wollte, niemand ertragen konnte. Andrej glaubte den dunklen Schatten aus Verzweiflung, Einsamkeit und Leid zu spüren, der über alldem hier lag, als wolle er die hier unglücklich Eingesperrten ersticken.
Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Abu Dun: »Und wenn er es ist?«
Marius? Tatsächlich hatte auch Andrej schon – gegen seinen Willen – darüber nachgedacht. Aber wie konnte dieser in Ketten gelegte Junge auch nur irgendetwas tun, außer ihn in seinen Träumen heimzusuchen? Und wahrscheinlich nicht einmal das, denn die einzigen Gespenster, die ihn wirklich quälten, waren in seiner eigenen Seele.
»Unsinn«, widersprach er, wenn auch zögernd und nicht überzeugt. Abu Dun verzog nur abfällig die Lippen, was Andrejs dumpfen Groll zusätzlich schürte.
»Gehst du und holst Scalsi?«, bat er mühsam beherrscht.
»Selbstverständlich, Sahib«, erwiderte Abu Dun leutselig. »Kann ich dem Herren vielleicht noch etwas bringen? Etwas zu essen oder einen Krug Bier?«
»Warm«, bestätigte Andrej, »und ohne Schaum. So wie wir es gewohnt sind.«
Abu Dun starrte ihn zwar noch einen Moment lang missmutig an, verließ dann aber ohne ein weiteres Wort die Zelle. Andrej drehte sich wieder zu Marius um.
Der Junge hatte sich nicht gerührt, seit sie hier hereingekommen waren. Sein Blick ging nach wie vor ins Leere, und hätte er es nicht besser gewusst, dann hätte er geschworen, dass er die ganze Zeit über nicht einmal geatmet hatte, geschweige denn geblinzelt. Mit einem Male fühlte sich Andrej befangen und wusste weder, was er sagen, noch, was er denken sollte. Statt vor ihm in die Hocke zu gehen, wie er es die letzten Male getan hatte, um ihn schweigend anzusehen und auf irgendeine Regung in diesen leeren Augen zu warten, ließ er sich neben dem Jungen auf die Kante der harten Pritsche sinken. Der Junge reagierte auch auf seine unmittelbare Nähe nicht und atmete so flach, dass es kaum noch zu sehen war.
Lange Minuten saß Andrej still da und zermarterte sich vergeblich den Kopf auf der Suche nach etwas, das er sagen konnte, und sei es noch so unsinnig, aber die Worte wollten nicht kommen. Es war, als scheue sich etwas in ihm, Marius direkt anzusprechen – und dabei hatte er doch das Gefühl, dass er nur das richtige Wort finden müsse, und der Junge würde aus seiner Starre erwachen.
Aber vielleicht war es ja auch genau das, was er fürchtete. Vielleicht würde ja etwas sehr, sehr Schlimmes passieren, wenn Marius erwachte.
Etwas raschelte, so leise, dass ein normales Ohr es gar nicht wahrgenommen hätte, und zugleich spürte er eine Bewegung hinter sich. Um Marius nicht zu erschrecken, drehte er nur langsam den Kopf und zog dann überrascht die Brauen zusammen.
Hinter dem Jungen war eine Ratte erschienen. Sie war nicht besonders groß und sah auch nicht wild aus, sondern so gepflegt und harmlos wie ein Haustier, und auch genauso wohlgenährt. Zuerst saß sie einfach nur da und blickte
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