Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
findet, ihn zu besuchen. Und lasst mich raten: Ihr werdet auch in den kommenden Tagen keine Gelegenheit haben herzukommen.«
Andrej verstand nicht einmal im Ansatz, wovon sie sprach, wollte aber keine weitere Zeit damit verschwenden, sondern machte nur eine auffordernde Geste zur Tür, die sie immer noch blockierte. »Bringt Ihr mich jetzt zu ihm?«
Auch noch der Rest von Freundlichkeit wich aus Innozenz’ Blick. »Ganz wie Ihr es wünscht, Signore Delãny.« Sie trat zurück und gab den Weg frei.
»Habt Ihr auf uns gewartet, Schwester Innozenz?«, fragte er, während sie in den kleinen Innenhof der Turmruine traten und darauf warteten, dass sie die Tür genauso umständlich wieder hinter sich verriegelte, wie sie sie aufgeschlossen hatte. Andrej kamen diese Vorkehrungen hoffnungslos übertrieben vor. Das Tor war so alt und morsch wie der gesamte Turm. Man musste nicht über die Kraft eines Abu Dun verfügen, um es mit der bloßen Faust einzuschlagen.
»Nehmt Ihr Euch jetzt nicht zu wichtig?«, fragte Innozenz.
»Ich wundere mich nur«, antwortete Andrej. Voller Unbehagen sah er sich um. Das uralte Gemäuer hatte bei keinem seiner Besuche etwas von seiner unheimlichen Ausstrahlung verloren, aber heute erschien sie ihm sogar noch stärker. Es fiel ihm fast schwer zu atmen. Vielleicht lag es am Licht, überlegte er. So kurz, wie die Tage zu dieser Jahreszeit waren, war die Sonne schon wieder hinter dem zerbröckelnden Rand der Turmruine verschwunden, und die Schatten wurden länger. Doch auch das Licht hatte sich verändert, auf seltsame Weise, als würde etwas fehlen, dessen Existenz man erst bemerkte, wenn es nicht mehr da war. Und es war deutlich kühler, als es sein sollte.
Andrej verscheuchte den Gedanken und führte seinen begonnenen Satz zu Ende. »Bisher musste ich immer klopfen und eine Weile warten, bis ich eingelassen wurde. Jetzt könnte man den Eindruck gewinnen, Ihr hättet nach mir Ausschau gehalten.«
Er rechnete fest mit einer spitzen Antwort, doch Innozenz ließ nur den Schlüssel in der Tasche verschwinden und bedeckte sie mit der flachen Hand, wie um sich davon zu überzeugen, dass er auch wirklich darin war. Oder ihn zu beschützen. »Ich war ein paarmal am Tor«, gestand sie. »Und ja: Ich habe auf Euch gewartet. Der Junge war unruhig, und ich hatte Angst, dass es nur schlimmer wird. Ihr tut ihm nicht gut, Signore.«
»Charmant wie immer«, sagte Abu Dun.
Schwester Innozenz ignorierte ihn und steuerte mit überraschend schnellen Schritten die Tür auf der anderen Hofseite an. »Folgt mir. Wir sollten den armen Jungen nicht noch länger warten lassen. Er ist schon ganz aufgeregt.«
Aufgeregt? Andrej tauschte einen fragend überraschten Blick mit Abu Dun, bekam aber nur ein Schulterzucken zur Antwort. Nun hatte er es umso eiliger, der Barmherzigen Schwester zu folgen und die schmale Treppe hinter ihr hinabzulaufen. Überraschenderweise bewegte sie sich so schnell, dass er sich nicht wie üblich zurückhalten musste, sondern ganz im Gegenteil beinahe Mühe hatte, mit ihr Schritt zu halten.
Der niedrige Gang war heller als bei seinen letzten Besuchen. An den Wänden brannten jetzt gleich mehrere Fackeln, in deren Schein zwei ärmlich gekleidete Männer mit strähnigem Haar und schmutzigen Gesichtern damit beschäftigt waren, den Boden zu säubern und frisches Stroh auszubringen. Die Luft duftete nicht gerade, roch aber nicht mehr annähernd so schlecht wie bisher.
»Das war die Idee des Dottore«, sagte Innozenz, der sein überraschter Blick nicht entgangen war. »Er war der Meinung, wir sollten es hier unten ein wenig … wohnlicher gestalten.«
Andrej ließ ihre Erklärung unkommentiert, und Abu Dun war voll und ganz damit beschäftigt, die beiden Männer mit ihren Besen und Eimern zu mustern – alles andere als freundlich. Andrej stellte mit einem Gefühl vager Sorge fest, dass es sich bei einem von ihnen um einen wahren Riesen handelte. Er war nicht annähernd so massig und stark wie Abu Dun (von seiner Gesundheit gar nicht zu reden), aber fast ebenso groß, und er kannte den Nubier nun weiß Gott gut genug, um zu wissen, wie dieser auf Männer reagierte, die seiner Statur nahekamen.
Schwester Innozenz kramte einen anderen Schlüssel aus der Tasche und nestelte ihn ins Schloss, ohne hinzusehen, drehte ihn aber noch nicht um. »Vielleicht ist es nicht gut, wenn zu viele zu ihm hineingehen«, sagte sie. »Der arme Junge ist schon aufgeregt genug.«
»Aufgeregt?« Abu Dun hatte
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