Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
Andrej aus ihren ebenso dunklen wie beunruhigend klugen Augen an, dann schien sie zu dem Schluss zu kommen, dass keine Gefahr von ihm ausging. Sie trippelte weiter, sprang auf Marius’ Schoß und machte Anstalten, es sich bequem zu machen – wie eine Hauskatze, die darauf wartete, gestreichelt zu werden. Spontan streckte Andrej den Arm aus, um sie zu verscheuchen, hielt dann aber inne, als er sich daran erinnerte, was Schwester Innozenz bei seinem ersten Besuch über dieses Tier erzählt hatte.
»Gut, dass du das nicht tust«, sagte eine Stimme von der Tür her. Andrej sah auf und gewahrte einen vertrauten Schatten, der sich schwarz gegen den hellen Hintergrund der Tür abhob, als wäre er mit einem Messer aus der Farbe der Nacht herausgeschnitten worden. Corinna fuhr auf die ihr eigene liebenswert spöttische Art fort: »Nicht dass ich mir nicht gerne immer wieder an dir zu schaffen mache, aber ich bin keine Krankenschwester, und das Ergebnis wäre wahrscheinlich nicht besonders zufriedenstellend.«
Sie kam näher und wies mit dem Kopf auf die Ratte, die nun sie auf dieselbe sonderbare Art ansah wie zuvor Andrej. »Sie beißt.«
»Ach ja?« War es möglich, dass das Geschöpf begriff, dass von ihm die Rede war?, dachte Andrej beunruhigt. Jedenfalls wandte es genau in diesem Moment den Kopf und sah nun wieder ihn an, und die Tasthaare an seiner spitzen Schnauze begannen nervös zu zittern. »Schwester Innozenz behauptet, sie wäre harmlos.«
»Soweit es ihn angeht, stimmt das auch«, sagte Corinna. »Ich weiß es von Innozenz. Sie tut Marius nichts zuleide, aber so ziemlich jeden anderen hier hat sie schon gebissen – von den Männern, die ihn waschen und ankleiden, bis zu Doktor Scalsi selbst. Sie soll sogar eure schwarzen Freundinnen attackiert haben, gleich am ersten Tag. Seltsam, nicht? Fast, als würde sie ihn verteidigen, wie ein treuer Hund seinen Herrn.«
Ungläubig musterte Andrej die Ratte. Das Tier musste wohl genug von der allgemeinen Aufmerksamkeit gehabt haben, denn es stand fast gemächlich auf und trollte sich, um in seinem Versteck in der Wand zu verschwinden.
»Es ist traurig, dass er nur dieses Tier zum Spielkameraden hat«, sagte Corinna. Sie setzte sich neben ihn, und obwohl sie im Vergleich zu Andrej praktisch nichts wog, ächzte das hölzerne Bett nun unter der zusätzlichen Last.
»Viele Spielkameraden wird er hier schwerlich finden«, sagte Andrej.
»Ja, das ist ein schlimmer Ort.« Corinnas Finger krochen über seinen Oberschenkel und legten sich auf seine Hand. Nach einem kurzen Moment zog er den Arm dann beinahe erschrocken weg – gerade weil die Berührung so angenehm war. »Aber es ist trotzdem gut, dass es ihn gibt. Wer würde sich sonst um all diese armen Menschen kümmern?«
Andrej musste an das denken, was er in jenem schrecklichen Korridor weiter oben gesehen – und vor allem gefühlt! – hatte. »Mir gefällt er nicht.«
»Mir auch nicht«, gestand Corinna. »Der Dottore hat sich zu Recht beklagt, dass ich ihn so selten besuche, und ich habe geantwortet, dass ich wenig Zeit habe. Das ist auch die Wahrheit … aber wahr ist auch, dass mir dieser Ort Angst macht. Ich weiß, das gilt für jeden Ort, an dem man mit Krankheit und dem Wissen um die eigene Sterblichkeit konfrontiert wird -jedenfalls sagt man das ja –, aber dieses Spital ist irgendwie anders.«
»Ich weiß, was du meinst«, sagte Andrej.
»Und du lässt ihn trotzdem hier?«
»Nicht mehr lange.«
»Ihr wollt ihn mitnehmen, wenn ihr nach Konstantinopel geht?«
Andrej sah sie überrascht an. »Du hast mir gar nicht gesagt, dass du Deutsch sprichst.«
»Und dass ich scharfe Ohren habe«, bestätigte Corinna. »Und sie werden sogar schärfer, je leiser einer spricht, damit ich ihn nicht verstehe.« Sie machte eine Kopfbewegung zur Tür und fuhr mit einem leisen Lachen fort: »Eine alte Frauenkrankheit, unter der wir fast alle leiden. Nur reden wir nicht gerne darüber. Aber des Deutschen bin ich nicht mächtig.«
Andrej blickte zweifelnd, und Corinna zog spöttisch die Augenbrauen hoch. »Das Wort Konstantinopel klingt in allen Sprachen gleich.«
»Du hast offensichtlich ein paar von den Sprachen noch nicht gehört, die in Abu Duns Heimat gesprochen werden.«
»Und du hast erzählt, dass eure Freundin ihn nach Konstantinopel bringen wollte«, fuhr Corinna ungerührt fort.
»Du bist nicht nur schön, sondern auch klug«, sagte Andrej, aber Corinna sah ihn an, als hätte er eine abfällige Bemerkung
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