Chronik der Unsterblichen - 12 - Der schwarze Tod
Andrej schob sie mit sanfter Gewalt weg. »Nicht hier.«
Sie war nicht verletzt. Ihr Blick wurde weich, und alles, was er in ihren Augen las, war tief empfundenes Mitleid. »Das verstehe ich«, sagte sie, aber nun gesellte sich auch noch Trauer zu dem Ausdruck in ihren Augen. »Werdet ihr … gleich fortgehen? Noch heute, meine ich?«
»Morgen, sobald es hell wird.« Er hätte sie gerne belogen, brachte es aber nicht übers Herz. »Da sind noch ein paar Vorbereitungen zu treffen. Aber wir müssen ihn von hier wegbringen. Hier wird sich sein Zustand nur noch weiter verschlimmern.«
»Dann bleibt uns noch eine Nacht«, sagte Corinna mit einem traurigen Lächeln. »Das ist weniger, als ich gehofft hatte. Aber besser als nichts … und wer weiß? Vielleicht kann ich dich ja doch überreden, noch ein wenig zu bleiben.«
»Wer weiß«, sagte Andrej.
Sie beide wussten, dass das nicht geschehen würde. Trotzdem zwang sich Corinna zu einem neuerlichen Lächeln und sagte: »Ich werde jedenfalls mein Möglichstes tun, um dich davon zu überzeugen, das verspreche ich dir.«
»Ich freue mich darauf.« Andrej lachte. »Aber nicht hier.«
Er stand auf, streckte ihr mit gespielter Galanterie die Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen, und deutete mit der anderen zur Tür. »Vielleicht sollten wir nachsehen, ob Abu Dun und Schwester Innozenz noch am Leben sind.«
»Oder wenigstens einer von beiden«, bestätigte Corinna. Sie ließ sich von ihm aufhelfen – was ganz und gar nicht nötig gewesen wäre, sie aber zugleich sichtbar genoss –, machte erst einen Schritt auf die Tür zu, drehte sich dann noch einmal um. Andrej begriff beinahe zu spät, was sie vorhatte, als sie sich in die Hocke sinken ließ und die Hand nach Marius’ Gesicht ausstreckte, um ihn zärtlich an der Wange zu berühren.
Andrej riss sie so derb zurück, dass sie mit einem erschrockenen kleinen Schrei das Gleichgewicht verlor und hart auf dem Hinterteil landete. »Rühr ihn nicht an!«, keuchte er.
Corinna sah ihn aus tränennassen Augen an. Sie hatte sich wehgetan, und das nicht wenig. »Aber was …?«, rief sie.
»Niemals, hast du das verstanden?«, unterbrach sie Andrej. »Ganz gleich, was auch passiert, rühr ihn niemals an!«
Corinna sagte nichts, aber in ihren Augen erschien ein Ausdruck, der ihn wie ein Messerstich traf. Angst. Angst vor ihm. Als er die Hand erneut ausstreckte, um ihr aufzuhelfen, ignorierte sie sie dieses Mal und stemmte sich aus eigener Kraft auf die Füße.
»Das hat wehgetan, Signore Delãny«, beschwerte sie sich mit scherzhaft weinerlicher Stimme. »Wenn es einen blauen Fleck gibt, dann werdet Ihr dafür bezahlen!«
Ihr war ebenso wenig nach Scherzen zumute wie ihm, dessen war er sich sicher, aber er wusste den Versuch zu schätzen. »Für beschädigte Ware?«, erwiderte er todernst. »Das muss ich mir überlegen … und sie erst einmal gründlich inspizieren, bevor ich eine endgültige Entscheidung treffe.«
»Ich bestehe darauf«, sagte Corinna.
Sie verließen die Zelle, und das angedeutete Lächeln wich wieder von Andrejs Lippen, als er die Tür zuschob und Marius dabei noch einmal ins Gesicht sah, das noch immer genauso leer und erstarrt war wie am Anfang. Ob er wohl gehört hatte, was er Corinna erzählt hatte, diese Geschichte, die wahr und trotzdem so weit von der Wirklichkeit entfernt war? Und ob er ihm verzeihen konnte?
So lange, Vater. So unendlich lange.
Er schloss die Tür, legte den Riegel vor und sah sich nach Schwester Innozenz um, damit sie ihm das Vorhängeschloss reichte, konnte sie aber so wenig entdecken wie Abu Dun. Nur die beiden Männer waren nach wie vor damit beschäftigt, den Boden zu säubern. Andrej hatte den Eindruck, dass sie nicht nennenswert von der Stelle gekommen waren. Oder um es anders auszudrücken: Eigentlich gab es hier gar nichts für sie zu tun. Der Boden war so sauber, wie ein Boden es eben war, den so gut wie nie jemand betrat, und auch das frische Stroh, das sie ausbrachten, war lediglich ein wenig trockener als das alte.
Vielleicht nur, um Corinna nicht ansehen zu müssen, bedachte er die beiden Männer mit einem nachdenklichen Blick, dann trat er an eine der drei anderen identischen Türen heran. Sie war verriegelt, aber anders als an Marius’ Zelle gab es hier kein Vorhängeschloss, sodass er den Riegel zurückschieben und sie öffnen konnte. Der Raum dahinter kam ihm vor wie eine Kopie von Marius’ Gefängnis, nur dass auf dem Bett keine Strohsäcke lagen. Er spürte,
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