Chronik der Vampire 02 - Fürst der Finsternis
strohbedeckten Boden, als hätte ihn ein Riese dahingeschleudert. Sein Hinterkopf war zerschmettert, und als wollten sie ihn oder mich verspotten, hatten sie ihm einen extrafeinen samtenen Gehrock angezogen. Roter Samt. Diese Worte hatte sie gemurmelt, nachdem sie ihr Verbrechen begangen hatten. Ich hatte nur seinen Tod gesehen. Ich wandte mich voll Abscheu zur Seite. Alle Pferde waren fort.
»Dafür werden sie bezahlen«, sagte ich.
Schließlich nahm ich Gabrielle bei der Hand. Aber sie starrte wie gebannt auf den Leichnam des unglücklichen Jungen. Dann sah sie mich an. »Mir ist kalt«, flüsterte sie. »Meine Kräfte schwinden. Ich muß, ich muß irgendwohin, wo es dunkel ist. Ich spüre es.«
Und schnell führte ich sie über den nahegelegenen Hügel der Straße zu.
Auf dem Dorffriedhof hatten sich natürlich keine kleinen, schreienden Monster versteckt; ganz wie ich erwartet hatte. Die Erde auf den alten Gräbern war schon ewig nicht mehr umgegraben worden.
Ich schleppte Gabrielle zum Seiteneingang der Kirche und brach geräuschlos den Riegel.
»Mich friert am ganzen Leib. Meine Augen brennen«, keuchte sie. »Nur irgendwohin, wo es dunkel ist.« Aber als ich sie ins Innere geleiten wollte, hielt sie inne. »Was ist, wenn sie recht haben«, sagte sie, »und wir im Haus Gottes nichts zu suchen haben?«
»Blödsinniges Geschwafel. Gott ist nicht im Haus Gottes.«
»Tu’s nicht!…« Sie stöhnte. Aber ich zerrte sie durch die Sakristei und vor den Altar. Sie bedeckte ihr Gesicht, und als sie aufblickte, sah sie das Kruzifix und das Tabernakel. Sie rang nach Atem. In Wirklichkeit hatte sie freilich die Augen vor den bunten Glasfenstern abgeschirmt. Die aufgehende Sonne, die ich noch nicht einmal spürte, versengte sie bereits!
Ich hob sie hoch, wie letzte Nacht. Ich mußte eine alte Grabkammer finden, eine, die schon jahrelang nicht mehr geöffnet worden war. Ich eilte zum Altar der Heiligen Jungfrau, dessen Inschriften fast völlig verwittert waren. Kniend umkrallte ich mit meinen Fingernägeln eine Steinplatte, riß sie schnell aus dem Boden und legte eine unterirdische Grabstätte mit nur einem morschen Sarg frei.
Ich zog sie mit mir in die Grabkammer und schob die Fliese wieder an ihren Platz.
Rabenschwarze Dunkelheit, und der Sarg zersplitterte unter mir, so daß meine rechte Hand in einen bröckelnden Schädel fuhr. Andere Knochen rammten sich mir spitz in die Brust. Gabrielle sprach wie in Trance: »Ja. Weg vom Licht.«
»Wir sind in Sicherheit«, flüsterte ich.
Ich stieß die Knochen fort und machte uns ein Nest aus dem morschen Holz und dem Staub, der zu alt war, um noch jedwelche Verwesungsgerüche auszusondern.
Aber ich konnte mindestens eine Stunde nicht einschlafen. Mir ging der Stalljunge nicht aus dem Kopf, der zerfleischt in seinem roten Samtrock dalag. Ich hatte diesen Rock schon einmal gesehen, aber ich wußte nicht mehr wo. Hatte er mir gehört? Waren sie in den Turm eingedrungen? Hatten sie den Rock nachschneidern lassen? So viel Aufwand, um mich zu verspotten? Nein. Wären diese Kreaturen zu derlei überhaupt fähig gewesen? Dennoch… dieser spezielle Rock. Irgend etwas…
7
Als ich die Augen öffnete, vernahm ich allerlieblichsten Gesang. Und wie Klänge so oft, entführten sie mich in meine Kindheit, zurück zu den winterlichen Nächten, in denen die ganze Familie zur Dorfkirche hinunterging und stundenlang zwischen den lodernden Kerzen stand und den schweren, schwelenden Geruch des Weihrauchs einatmete, wenn der Priester mit hocherhobener Monstranz zum Altar schritt.
Ich erinnerte mich an den Augenblick der runden, weißen, von Glitzerwerk umgebenen Hostie hinter den dicken Scheiben und dem darüber bedenklich schwankenden Baldachin, den die Ministranten ungeschickt in Balance zu halten suchten.
Und unauslöschlich haben sich mir die Worte des alten Chorais ins Gedächtnis gegraben:
O Saiutaris Hostia
Quae caeli pandis ostium
Bella premunt bostilia,
Da robur, fer auxilium…
Und als ich in den Resten dieses geborstenen Sargs lag, unter den weißen Marmorfliesen des Seitenaltars dieser Dorrkirche, Gabrielle noch schlaftrunken an mich geschmiegt, wurde ich ganz allmählich gewahr, daß über mir ganze Hundertschaften von Menschen ebendiesen Choral sangen.
Die Kirche war voller Leute! Und wir konnten diesem verdammten Knochennest nicht entkommen, bis sie alle fort waren.
Ich spürte, wie sich in der Dunkelheit um mich Lebewesen bewegten. Ich konnte das
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