Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr
möglich machen, mich zu besuchen, dich mit mir zu unterhalten, ja, mir sogar Obdach zu gewähren und mir zu helfen. Das könntest du nicht, wenn du wirklich wüßtest, was ich bin. Ich habe versucht, es dir zu sagen. Als ich von meinen Träumen sprach …«
»Du irrst dich. Da spricht nur deine Eitelkeit«, widersprach er. »Du bildest dir gern ein, du wärest schlimmer, als du bist. Was denn für Träume? Ich erinnere mich nicht, daß du mir je von Träumen erzählt hättest.«
Ich lächelte. »Nein? Denke nach, David. Mein Traum vom Tiger. Ich fürchtete für dich. Und jetzt wird sich die Bedrohung aus dem Traum erfüllen.«
»Was meinst du damit?«
»Ich werde es mit dir tun, David. Ich werde dich zu mir holen.«
»Was?« Jetzt flüsterte er. »Was redest du da?« Er beugte sich vor, um meinen Gesichtsausdruck besser zu sehen. Aber das Licht war hinter uns, und seine sterblichen Augen genügten nicht.
»Ich sage doch, ich werde es mit dir tun, David.«
»Warum, warum sagst du das?«
»Weil es so ist.« Ich stand auf und stieß den Stuhl mit dem Fuß beiseite.
Er starrte mich an. Erst jetzt begriff sein Körper die Gefahr. Ich sah, wie die feinen Muskeln an seinen Armen sich strafften. Er schaute mir in die Augen.
»Warum sagst du das? Das könntest du mir nicht antun.«
»Natürlich könnte ich. Und ich werde es tun. Jetzt. Ich habe dir immer gesagt, ich bin böse. Ich habe dir gesagt, ich bin der Teufel. Der Teufel in deinem Faust, der Teufel in deinen Visionen, der Tiger in meinem Traum.«
»Nein, das ist nicht wahr!« Er sprang auf, daß der Stuhl hinter ihm umkippte, und hätte fast das Gleichgewicht verloren. Er wich ins Zimmer zurück. »Du bist nicht der Teufel, und du weißt es. Tu mir das nicht an! Ich verbiete es!« Bei den letzten Worten biß er die Zähne zusammen. »Im Grunde deines Herzens bist du ein Mensch wie ich. Und du wirst es nicht tun.«
»Den Teufel werde ich«, entgegnete ich lachend; ich konnte plötzlich nicht anders. »David, der Generalobere. David, der Candomble-Priester.«
Er wich über den Fliesenboden immer weiter zurück; das Licht schien ihm ins Gesicht und auf die straffen, starken Muskeln seiner Arme.
»Willst du dich gegen mich wehren? Das nützt dir nichts. Keine Macht auf Erden könnte mich daran hindern, es zu tun.«
»Lieber sterbe ich«, brachte er mit leiser, erstickter Stimme hervor. Sein Gesicht war dunkel und von Blut durchströmt. Ah, Davids Blut…
»Ich lasse dich nicht sterben. Warum rufst du nicht deine brasilianischen Geister herbei? Du weißt nicht mehr, wie es geht, was? Dein Herz ist nicht mehr dabei. Nun, es würde dir auch nichts nützen.«
»Das kannst du nicht tun«, sagte er, verzweifelt um Ruhe bemüht. »Du kannst mich nicht auf diese Weise entlohnen.«
»Oh, aber so entlohnt der Teufel seine Helfen«
»Lestat, ich habe dir gegen Raglan geholfen! Ich habe dir geholfen, diesen Körper wiederzubekommen, und wie hast du mir Treue geschworen? Was waren deine Worte?«
»Ich habe dich belogen, David. Ich habe mich selbst belogen und andere auch. Das hat mich mein kleiner Ausflug ins Menschliche gelehrt. Ich lüge. Du überraschst mich, David. Du bist wütend, so wütend, aber du hast keine Angst. Du bist wie ich, David - du und Claudia, die einzigen, die wirklich so stark sind wie ich.«
»Claudia«, sagte er und nickte leise. »Ach ja, Claudia. Ich habe etwas für dich, mein lieber Freund.« Er ging davon, wandte mir absichtlich den Rücken zu, um mir mit dieser Geste seine Furchtlosigkeit zu beweisen, und er ging langsam und ohne Hast zu der Truhe neben dem Bett. Als er sich umdrehte, hatte er ein kleines Medaillon in der Hand. »Aus dem Mutterhaus. Das Medaillon, das du mir beschrieben hast.«
»O ja, das Medaillon. Gib es mir.«
Erst jetzt sah ich, wie seine Hände zitterten, als er an dem kleinen, ovalen Goldgehäuse nestelte. Und die Finger - er kannte sie doch noch nicht so gut, wie? Endlich hatte er es geöffnet und hielt es mir entgegen, und ich betrachtete die gemalte Miniatur - ihr Gesicht, ihre Augen, die goldenen Locken. Ein Kind, das mich unter der Maske der Unschuld anblickte. Oder war es keine Maske?
Und langsam stieg aus dem gewaltigen, dunklen Schlund meiner Erinnerungen jener Augenblick herauf, da ich dieses Medaillon und die goldene Kette zum erstenmal zu Gesicht bekommen hatte… wo ich in der dunklen, schlammigen Gasse auf die pestverseuchte Hütte gestoßen war, in der ihre Mutter tot lag und das sterbliche
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