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Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr

Titel: Chronik der Vampire 04 - Nachtmahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Kind selbst zur Nahrung für den Vampir wurde, ein kleiner weißer Körper, hilflos zitternd in Louis’ Armen.
    Wie hatte ich ihn ausgelacht; ich hatte mit dem Finger auf ihn gezeigt, und dann hatte ich den Leichnam der Frau - Claudias Mutter - aus dem stinkenden Bett gerissen und war damit im Zimmer herumgetanzt. Und an ihrem Hals hatte die goldene Kette mit dem Medaillon geschimmert, denn nicht einmal der frechste Dieb wäre in diese Hütte eingedrungen, um das Schmuckstück aus dem Rachen der Pest zu stehlen.
    Mit der linken Hand hatte ich danach gegriffen, als ich die arme Leiche fallen ließ. Der Verschluß war gebrochen, und ich hatte die Kette über dem Kopf geschwungen wie eine kleine Trophäe des Augenblicks, und dann hatte ich sie in die Tasche gesteckt, war über den Körper der sterbenden Claudia gestiegen und Louis durch die Straßen nachgelaufen.
    Monate danach hatte ich es in derselben Tasche wiedergefunden und ans Licht gehalten. Ein lebendiges Kind war sie gewesen, als das Porträt gemalt wurde, aber das Blut der Finsternis hatte ihr die Saccharin-Vollkommenheit des Kunstwerks verliehen. Es war meine Claudia, und ich hatte das Medaillon in meiner Truhe verwahrt. Wie es zur Talamasca oder sonstwohin gekommen war, wußte ich nicht.
    Ich hielt es in der Hand und blickte auf. Es war, als sei ich eben dort gewesen, in diesem verfallenen Häuschen, und jetzt war ich hier und starrte ihn an. Er hatte etwas gesagt, aber ich hatte nichts gehört, doch jetzt vernahm ich seine Stimme klar und deutlich.
    »Du würdest es mir antun?« fragte er herausfordernd, aber sein Timbre verriet ihn, wie die zitternden Hände ihn verrieten. »Schau sie an. Das würdest du mir antun?«
    Ich warf einen Blick auf das winzige Gesicht und sah ihn an.
    »Ja, David. Ich habe ihr gesagt, ich würde es wieder tun. Und ich werde es mit dir tun.«
    Ich warf das Medaillon hinaus, über die Terrasse, über den Strand, ins Meer. Die feine Kette war wie eine goldene Schramme im Stoff des Himmels - einen Moment lang, und dann verschwand sie im schimmernden Licht.
    Er wich mit einer verblüffenden Behendigkeit zurück und drückte sich an die Wand.
    »Tu es nicht, Lestat.«
    »Wehre dich nicht, alter Freund. Du verschwendest deine Kräfte. Du hast eine lange Nacht der Entdeckungen vor dir.«
    »Du wirst es nicht tun!« rief er, aber seine Stimme war tief, ein gutturales Brüllen. Er stürzte sich auf mich, als könne er mich aus dem Gleichgewicht bringen. Mit beiden Fäusten schlug er mich gegen die Brust, aber ich rührte mich nicht. Er fiel zurück; die Anstrengung bereitete ihm Schmerzen, und blanke Wut lag in seinen tränenden Augen. Wieder war ihm das Blut in die Wangen geströmt und hatte sein Gesicht dunkler werden lassen. Und erst jetzt sah er, wie aussichtslos alle Gegenwehr war, und er versuchte zu fliehen.
    Ich packte ihn am Nacken, bevor er die Terrasse erreichte. Meine Finger massierten sein Fleisch, während er wild zappelte wie ein Tier, das sich losreißen wollte. Langsam hob ich ihn hoch; ich umfaßte seinen Hinterkopf mühelos mit der Linken und trieb die Zähne durch die feine, duftende Haut an seinem Hals, und dann fing ich den ersten, sprudelnden Strahl seines Blutes auf.
    Ah, David, mein geliebter David. Nie war ich in eine Seele hinabgestiegen, die ich so gut kannte. Wie kräftig und wunderbar waren die Bilder, die mich umgaben: sanftes, wunderschönes Sonnenlicht, das den Mangrovenwald durchstrahlte, das Knirschen des hohen Grases auf der Steppe, der dröhnende Knall des schweren Gewehrs, das Beben der Erde unter den stampfenden Füßen der Elefanten. Alles war da: all die Sommerregen, die endlos den Dschungel durchfluteten, das Wasser, das an den Pfosten hochstieg und die Bohlen der Veranda überschwemmte, der von Blitzen durchzuckte Himmel - und unter all dem pochte sein Herz, rebellisch, vorwurfsvoll, du betrügst mich, du betrügst mich, du nimmst mich gegen meinen Willen … und die tiefe, schwere, salzige Hitze des Blutes selbst.
    Ich stieß ihn von mir. Das war genug für den ersten Trank. Ich sah zu, wie er sich mühsam auf die Knie erhob. Was hatte er in diesen Sekunden gesehen? Wußte er jetzt, wie finster und mutwillig meine Seele war?
    »Du liebst mich?« sagte ich. »Ich bin dein einziger Freund auf der Welt?«
    Ich beobachtete, wie er über die Fliesen kroch. Er packte das Fußende des Bettes und zog sich hoch, und dann kippte er schwindlig wieder zurück auf den Fußboden. Wieder versuchte er, sich

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