Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
Gott, daß er solche Dinge geschehen lassen konnte - daß aus der Materie Dinge entstehen konnten, die einen Kopf hatten.
Und dann, noch ehe die Meerestiere begonnen hatten, aufs Land zu kriechen, entdeckte ich die Sechste Offenbarung, die nicht weniger Schrecken in mir hervorrief. Diese Kreaturen, mit ihren Köpfen und Gliedern, wie bizarr und vielgestaltig sie auch immer waren, diese Wesen hatten ein Angesicht! Ein Angesicht wie wir: zwei Augen, Nase und Mund. Erst der Kopf und jetzt auch noch ein Gesicht, der Ausdruck eines denkenden Geistes!
Ich war entsetzt! Ich löste eine erregte Auseinandersetzung aus, indem ich Gott bedrängte: ›Willst du wirklich so etwas geschehen lassen? Wo wird das enden? Was sind das für Kreaturen? Der Lebensfunke in ihnen ist noch stärker, glüht heiß und stirbt nur schwer! Hörst du, was ich sage?‹
Einigen der anderen Engel grauste es. Sie sagten: ›Memnoch, du treibst es zu weit! Offensichtlich gibt es zwischen diesen Kreaturen und uns, den Söhnen Gottes, den Bewohnern des bene ha elohim, eine Verwandtschaft - wie großartig wir auch sind. Der Kopf, das Gesicht, ja, das ist eindeutig. Aber wie kannst du es wagen, Gottes Plan anzuzweifeln.^
Ich war untröstlich und voller Mißtrauen, und denen, die meiner Meinung waren, ging es ebenso. Wir waren irritiert, und so begaben wir uns zurück auf die Erde, die zu weiteren Streifzügen einlud, und wanderten dort umher. Ich konnte meine Größe ja nun an den Dingen dort messen, wie ich es vorhin erwähnt habe, und ich konnte unter geschmeidigen, laubengleichen Pflanzen liegen, ihrem Wachstum lauschen und über sie nachdenken, während ich mich an ihren Farben satt sah.
Dennoch verfolgte mich die Ahnung bevorstehenden Unheils. Bis etwas Außergewöhnliches eintrat. Gott kam zu mir!
Gott verläßt den Himmel dabei nicht. Er dehnt sich sozusagen nur aus; Sein Licht kam herab zu mir, umfing mich, nahm mich auf und zu Ihm hin; und dann sprach Er zu mir.
Natürlich war das an sich schon ein Trost. Ich hatte mir die Glückseligkeit des Himmels seit langer Zeit versagt, und diese Wonne nun herabkommen zu sehen und davon in vollkommener Liebe und Ruhe umfangen zu sein besänftigte mich zutiefst. All die Fragen, die Zweifel schwanden. Der Schmerz verging. Dieses Gefühl der Bestrafung, das Tod und Verfall in mir hervorgerufen hatten, war wie weggewischt.
In dieser natürlichen Verschmelzung mit Ihm hatte ich keinerlei Gespür für meine Gestalt; schon viele Male waren wir so eng verbunden gewesen, auch, als Er mich erschuf, als ich aus Ihm hervorging. Doch dies jetzt zu fühlen war ein ergreifendes, bannherziges Geschenk für mich.
Gott sprach: ›Du nimmst mehr wahr als andere Engel. Du denkst voraus, etwas, was die anderen gerade erst lernen. Sie sind wie Spiegel, die jeden Schritt in seiner Großartigkeit reflektieren, wohingegen du Argwohn hegst. Du vertraust mir nicht.‹
Diese Worte bekümmerten mich. ›Du vertraust mir nicht.‹ Ich hatte meine Befürchtungen nicht für Mißtrauen gehalten, aber kaum, daß es mir klar wurde, war Ihm diese Erkenntnis auch schon genug. Er rief mich zu sich zurück in den Himmel und sagte, daß ich die Dinge nun häufiger von diesem bevorzugten Standort aus betrachten und mich nicht so tief in die Gegebenheiten der Welt einlassen sollte.«
Ich konnte Memnoch nur wortlos anstarren, während er mir all dies erklärte. Wir standen immer noch am Ufer des Wasserlaufs. Auch jetzt, als er mir von diesen Tröstungen erzählte, schien er mir nicht sonderlich beruhigt. Es lag ihm sehr daran, mit seiner Geschichte fortzufahren.
»Ich kehrte also zurück in den Himmel, aber wie ich schon sagte, die gesamte himmlische Struktur hatte sich verändert. Der Himmel war auf die Erde fixiert. Die Erde war das himmlische Thema. Und nie war ich mir dessen stärker bewußt gewesen als jetzt bei meiner Rückkehr. Ich trat vor Gott, kniete anbetend nieder und schüttete Ihm mein Herz aus wegen der Zweifel, die ich hegte, vor allem aber zeigte ich auch meine Dankbarkeit darüber, daß Er zu mir gekommen war. Ich fragte, ob ich die Freiheit hätte, zur Welt dort unten zurückzukehren.
Er antwortete mir in Seiner hintergründigen, unverbindlichen Art: ›Es ist dir nicht verboten. Du bist ein Wächter, und deine Pflicht liegt darin, zu wachen, zu beobachten.‹ So ging ich also wieder hinab -«
»Einen Moment«, sagte ich. »Ich möchte dich etwas fragen.«
»Ja«, erwiderte er geduldig. »Doch komm, laß uns unsere
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