Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
ich inzwischen. Memnoch blickte mich immer noch fragend an, und ich begriff nicht, was er wollte. Die Sonne schien mit voller Kraft auf uns herab, und ich bemerkte, daß meine Hände Blut schwitzten; auch auf meiner Stirn stand Schweiß. Ich wischte ihn ab und betrachtete das Blut auf meiner Hand. Memnochs Haut glänzte nur matt, mehr nicht. Er starrte mich nach wie vor an.
»Was ist geschehen?« fragte ich. »Warum sagst du nichts? Was ist? Warum sprichst du nicht weiter?«
»Du weißt verdammt genau, was geschah«, sagte er. »Schau dir jetzt nur deine Kleidung an, sie ist besser für die Wüste geeignet. Ich möchte, daß du dort hinübergehst, dort über die Hügel… mit mir.«
Er stand auf, und ich folgte ihm. Keine Frage, wir waren im Heiligen Land. Wir kamen an Dutzenden von Leuten vorbei, an Fischern an einem Seeufer nahe einem Dorf, an Hirten, die kleine Herden zu Siedlungen oder Gehegen trieben. Alles wirkte sehr vertraut, irritierend vertraut, stärker noch als ein Deja-vu-Erlebnis. Es weckte eine sehr genaue Erinnerung, die unauslöschlich in meinem Gedächtnis eingeprägt war. Und damit meinte ich alles um mich herum - selbst den nackten, verkrüppelten Mann, der, auf einen Stock gestützt, wutentbrannt laut schimpfend an uns vorbeihumpelte, ohne uns zu bemerken.
Unter der Staubkruste, die alles bedeckte, fand ich die vertrauten Formen und Gestalten und Verhaltensweisen, die jedermann aus der Schrift, von Stichen und ausgeschmückten Illustrationen her und selbst aus Filmen kennt. Das hier war heiliger, aber auch vertrauter Boden - in seiner ganzen bloßen, glühenden Herrlichkeit.
Hoch oben auf den Hügeln standen Leute vor ihren Höhlen. Hier und da saßen sie in kleinen Gruppen im Schatten eines Gehölzes zusammen und redeten oder dösten.
Von ferne drang der Lärm befestigter Städte herüber. Die Luft war voller Sand, er flog mir in die Nase und klebte an meinen Lippen und in meinem Haar. Memnochs Flügel sah man nicht. Schmutzflecken waren auf unser beider Kleidung, die, wie mir schien, aus Leinen gemacht war, durch das die Luft kühlend hindurchstrich. Wir trugen lange, schmucklose Gewänder; sonst war unser Äußeres, unsere Gestalt jedoch unverändert.
Vom strahlend blauen Himmel brannte die Sonne herab, und ich empfand den Schweiß einerseits als angenehm, andererseits als unerträglich. Nur flüchtig kam mir der Gedanke, daß ich zu jeder anderen Zeit schon die Sonne an sich bestaunt hätte, dieses Wunder des Sonnenlichts, das den Kindern der Nacht versagt ist - und doch hatte ich während der ganzen Zeit nicht daran gedacht, nicht ein einziges Mal, denn da ich das Licht Gottes geschaut hatte, war die Sonne für mich nicht mehr das wahre Licht.
Wir stiegen die felsigen Hügel hinauf, über steile Pfade zwischen aufragenden Felsen und zerzaustem Gestrüpp hindurch, bis schließlich vor uns weiter unten eine große, trostlose, glutheiße Sandwüste auftauchte, über die ein trockener Wind wehte. Gleichsam an der Schwelle zu dieser Wüste blieb Memnoch stehen, dort, wo de feste, aus hartem Gestein bestehende holprige Untergrund in weichen Sand überging und jeden weiteren Schritt noch beschwerlicher machte. Ich holte ihn dort ein, denn ich war etwas zurückgeblieben. Er legte seinen linken Arm um mich, die gespreizten Finger drückten sich fest gegen meine Schulter. Ich war froh über diese Geste, denn ich war zusehends besorgt; genaugenommen beschlich mich eine Furcht und eine so böse Vorahnung, wie ich sie nie zuvor verspürt hatte.
»Nachdem Er mich verstoßen hatte«, fuhr Memnoch nun fort, »wanderte ich umher.« Seine Augen waren auf die Wüste gerichtet, so schien mir, und auf die kahlen, im Sonnenlicht gleißenden Felsen, die in der Ferne feindlich wie die Wüste selbst aufragten. »Ich streifte umher, so wie du oft umhergestreift bist. Lestat. Ohne Schwingen, untröstlich, ließ ich mich treiben, Städte und Einöden, Staaten und ganze Kontinente durchquerte ich. Wenn du willst, kann ich dir das irgendwann einmal erzählen. Jetzt ist es nicht wichtig. Wichtig ist, daß ich es nicht wagte, mich den Menschen zu zeigen öde: zu offenbaren, sondern mich vor ihnen verbarg, unsichtbar, mir also keinen Körper schuf aus Furcht, Gott aufs neue zu erzürnen. Ich wagte auch nicht, mich unter irgendeiner Maske verborgen den Menschen und ihrem Streben anzuschließen, aus Angst vor Gott und wegen des Bösen, das ich über die Menschen bringen könnte. Und aus genau der gleichen Furcht
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