Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
nichts Ungewöhnliches, nur daß es mich magisch anzog. Denn dies war mehr als jedes andere mein Land; und wie von einem unsichtbaren Faden gezogen, machte ich mich auf den Weg und wanderte von Jerusalem nach Osten, ins Ödland hinein.
Meine scharfen Engelssinne spürten die Nähe eines Mysteriums, das die heiligsten Dinge betraf, so daß es einem Engel auf Anhieb klar sein mußte, wenn auch vielleicht keinem Menschen. Mein Verstand rebellierte gegen die Stärke dieser Empfindung, doch ich setzte meinen Weg fort und wanderte trotz der Tageshitze in die Wüste, ohne meine Schwingen und unsichtbar.«
Memnoch zog mich mit sich, und wir gingen über den Sand, m den ich zwar nicht so tief einsank, wie ich geglaubt hatte, der jedoch sehr heiß war und durchsetzt mit kleinen Steinchen. Durch Bodensenken und über leichte Erhebungen hinweg erreichten wir schließlich eine kleine ebene Fläche, auf der einige Felsblöcke zusammengetragen zu sein schienen, als sei es ein Versammlungsplatz. Doch das Ganze wirkte ebenso natürlich wie der Ort, an dem wir uns vorher so lange aufgehalten hatten. Ein Markstein in der Wüste sozusagen, ein Denkmal vielleicht. Wie auf die Folter gespannt, wartete ich darauf, daß Memnoch weitersprach.
Meine Beunruhigung wurde immer größer. Dann verlangsamte er den Schritt, bis wir nur noch einen Steinwurf von dieser Felsgruppe entfernt waren.
»Immer näher«, sagte er, »kam ich zu diesem markanten Ort, den du dort siehst, und mit meinen Engelsaugen, so scharf wie die deinen, erspähte ich schon von weitem einen einzelnen Mann. Doch ich erkannte auch, daß dies kein Mensch war, sondern daß dieser Mann vom Licht Gottes erfüllt war.
Ich konnte es nicht glauben, und doch war ich nicht in der Lage, innezuhalten, bis ich schließlich hier, an dieser Stelle, stehenblieb und die Gestalt anstarrte, die dort auf dem Felsen vor mir saß und zu mir aufsah.
Es war Gott. Ohne Zweifel. In Fleisch und Blut, von der Sonne verbrannt, dunkelhaarig, mit den dunklen Augen der Wüstenvölker, und doch war es Gott!
Mein Gott!
Da saß er leibhaftig und schaute mich an mit menschlichen und gleichzeitig göttlichen Augen, und ich konnte das Licht sehen, das Ihn erfüllte, das Licht, das in
Ihm versiegelt und von der Außenwelt abgeschirmt war durch Sein Fleisch, als sei das der undurchdringlichste Stoff zwischen Himmel und Erde.
Wenn es etwas gab, das noch verwirrender war als diese Offenbarung, dann war es die Tatsache, daß Er mich anblickte, daß Er mich erkannte und auf mich gewartet hatte und daß, als ich ihn ansah, ich ganz in Liebe zu Ihm ergriffen war. Immer und ewig singen wir von der Liebe. Ist denn kein anderes Lied für die gesamte Schöpfung vorgesehen?
Mit Entsetzen betrachtete ich Seinen sterblichen Körper, nahm die sonnenverbrannte Haut, Seinen Durst, Seinen Hunger und Seine von der Sonne gequälten Augen wahr, ich fühlte die Gegenwart des allmächtigen Gottes und empfand rückhaltlose Liebe.
›So bin ich also gekommen, Memnoch‹, sagte er mit der Stimme und in der Sprache der Menschen.
Ich fiel vor Ihm nieder. Das war ganz instinktiv. Ich lag da, streckte die Hand aus und berührte einen Riemen Seiner Sandalen. Ich stieß einen Seufzer aus, und ein Zittern ging durch meinen Körper, weil ich aus meiner Einsamkeit erlöst war, weil ich die Kraft der göttlichen Anziehung spürte, die so zutiefst befriedigend war.
Schließlich weinte ich, einfach weil ich Ihm nahe war, Ihn sehen konnte, und ich fragte mich erstaunt, was das alles bedeuten mochte.
›Steh auf, komm und setz dich zu mir, sagte Er. ›Ich bin nun ein Mensch und zugleich Gott, doch ich fürchte mich.‹ Seine Stimme klang unbeschreiblich bewegend, menschlich, doch voller göttlicher Weisheit. Er sprach in der Sprache und dem Tonfall Jerusalems.
›Oh, Herr, wie kann ich Deine Schmerzen lindern?‹ fragte ich, denn er litt sichtlich. Ich stand auf. ›Was hast Du getan und warum?‹
›Ich habe genau das getan, wozu du mich aufgefordert hast, Memnoch‹, antwortete Er und zeigte mir ein traumverlorenes, gewinnendes Lächeln. ›Ich habe mich ins Fleisch begeben. Nur daß ich dich noch übertreffen habe, denn ich wurde von einer sterblichen Mutter geboren, in die ich selbst den Samen gelegt hatte; und seit dreißig Jahren lebe ich jetzt auf dieser Welt, von Kindheit an bis zum Mannesalter, und lange Zeit haben mich Zweifel an mir selbst geplagt -haben mich sogar vergessen, nicht mehr glauben lassen, daß ich wirklich Gott
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