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Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel

Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel

Titel: Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Schreckens war mir mein Faden verlorengegangen.
    Schließlich sprach ich meine Gedanken offen aus: ›Es ist alles verkehrt, Herr.
    Daß Gott sich in menschlicher Gestalt derart erniedrigen sollte, ist an sich schon unaussprechlich, aber daß die Menschen Gott dies antun dürfen… Aber werden sie überhaupt wissen, was sie da tun, und daß Du Gott bist? Ich meine, wie könnten sie… Herr, sie werden es in Irrtum und Verblendung tun. Das bedeutet Chaos, Herr! Finsternis!‹
    ›Natürlich‹, sagte Er. ›Wer würde bei klarem Verstand den Sohn Gottes kreuzigen?‹
    ›Welche Bedeutung hat es denn dann?‹
    ›Memnoch, es bedeutet, daß ich mich nach eigenem Willen dem Menschsein unterworfen habe, aus Liebe zu denen, die ich erschaffen habe. Ich bin im Fleische, Memnoch, seit dreißig Jahren. Würdest du mir bitte erläutern, was du willst?‹ ›Herr, auf diese Art zu sterben kann nicht richtig sein. Es ist ein gräßlicher Tod, Herr, ein blutiges, scheußliches Exempel, das da der Menschheit präsentiert wird.
    Und Du selbst sagst, vor allem deswegen wird man sich Deiner erinnern? Nicht so sehr Deiner Auferstehung von den Toten wegen, nicht des göttlichen Lichts wegen, das aus Deinem menschlichen Körper hervorbrechen und das Leid von Dir nehmen wird?‹
    ›Das Licht wird nicht aus diesem Körper hervorbrechen‹, sprach Er. ›Dieser Körper wird sterben. Ich werde den Tod erfahren. Ich werde in Scheol eingehen und für drei Tage dort verweilen unter den Gestorbenen, und dann werde ich in diesen Körper zurückkehren und ihn vom Tode erwecken. Und richtig, wegen meines Sterbens werde ich in Erinnerung bleiben, denn wie kann ich auferstehen, wenn ich nicht sterbe?«
    ›Tu es nicht!‹ flehte ich. ›Ich bitte Dich wirklich. Mach Dich nicht zum Opfertier. Ergib Dich nicht ihren fehlgeleiteten, blutigen Ritualen. Herr, bist Du je ihren stinkenden Altären nahe gekommen? Ich weiß, ich forderte Dich auf: Lausche ihren Gebeten, aber damit meinte ich nicht, daß Du Dich von Deiner erhabenen Höhe herabbegeben solltest, um den Gestank von Blut und toten Tieren zu riechen oder die dumpfe Angst im Auge des Opfers zu sehen, wenn seine Kehle durchtrennt wird! Sahst Du die Säuglinge, die man in den feurigen Rachen des Gottes Baal warf?‹
    ›Memnoch, diesen Weg zu Gott hat der Mensch selbst gewählt. Auf der ganzen Welt sprechen die Mythen die gleiche Sprache.‹
    ›Ja, aber doch nur, weil Du nie eingeschritten bist, um dem Einhalt zu gebieten.
    Du ließest es geschehen, Du ließest die Menschen sich höher entwickeln, so daß sie voller Entsetzen auf ihre tierischen Vorfahren zurückblickten. Sie sahen, daß sie sterblich sind, und versuchen nun, einen Gott zu besänftigen, der sie all diesem Schrecken preisgegeben hat. Herr, sie suchen nach einem Sinn, doch in dem, was Du vorhast, werden sie ihn nicht finden. Niemals!‹
    Er betrachtete mich, als sei ich wahrhaft wahnsinnig. Schweigend starrte Er mich an. ›Du enttäuschst mich‹, sagte Er leise und sanft. ›Du verletzt mich, Memnoch, du verletzt mein menschliches Herz.‹ Er legte seine aufgesprungenen Hände um mein Gesicht, die Hände eines Mannes, der gearbeitet hatte in dieser Welt, geschuftet, wie ich während meines kurzen Aufenthaltes dort nie geschuftet hatte. Ich schloß die Augen und schwieg. Doch mir war etwas aufgegangen. Eine Enthüllung, eine Einsicht, ein plötzliches Erfassen dessen, was hier so verkehrt war, doch konnte ich es verstandesmäßig erklären? Fand ich die richtigen Worte? Ich öffnete die Augen, ließ mich von ihm halten, spürte die Schwielen an seinen Händen, während ich in sein hageres Antlitz blickte. Wie sehr Er doch gefastet, wie sehr Er gelitten hatte in dieser Wüste, und wie sehr Er sich in diesen dreißig Jahren abgemüht hatte! O nein, wie verkehrt das doch alles war!
    ›Was, mein Erzengel, was ist verkehrt?‹ verlangte er zu wissen, unendlich geduldig, unendlich bestürzt.
    ›Herr, die Menschen versuchen ihre Leiden in Ritualen zu bannen, weil sie in ihrer den Naturgesetzen unterworfenen Welt Leiden nicht ausschließen können. Die den Gesetzen der Natur folgende Welt, die muß überwunden werden! Warum muß derartiges Leid, wie Du es den Menschen auferlegst, ertragen werden? Herr, ihre Seelen kommen entstellt und von Leid verzerrt nach Scheol und schwarz wie Asche durch die Flammen von Elend, Gewalt und Not, deren Zeugen sie waren. Leiden ist das Böse in dieser Welt. Es bedeutet Verfall und Tod, und es ist

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