Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
stirbt, damit ein anderer leben kann, oder sich in den sicheren Tod stürzt, um seine Angehörigen zu schützen, oder wenn er die grundsätzlichen Wahrheiten des Lebens, die ihn die Schöpfung lehrt, verteidigt.‹
›Aber all das muß nicht sein, Herr! Nein und abermals nein. Weder Blut noch Leid, noch Krieg müssen sein, denn nicht diese Dinge lehren die Menschen zu lieben! All diese bluttriefenden, gräßlichen Schrecknisse hatten sich schon in der Tierwelt abgespielt. Herzlichkeit und gegenseitige Zuneigung, das waren die Lehrmeister der Menschen - die Liebe zu den Kindern, zu einem Gefährten, die Fähigkeit, füreinander Verständnis zu haben, und der Wunsch, den anderen zu beschützen, Barbarei und Roheit aufzugeben, um eine Familie, einen Clan, einen Stamm aufzubauen, der Frieden und Sicherheit für alle bedeutete!‹
Wieder langes Schweigen und schließlich ein ganz sanftes Lachen. ›Memnoch, mein Engel. Was du über das Leben gelernt hast, hast du im Bett gelernt.‹ Ich antwortete nicht sofort. Der Kommentar zeugte natürlich sowohl von Geringschätzung als auch von Humor. Aber dann sagte ich: ›Das ist wahr, Herr.
Aber Leiden ist für die Menschen so entsetzlich, und Ungerechtigkeit schadet ihrer geistigen Ausgeglichenheit so sehr, daß sie all das vergessen, was das Bett sie lehrte, wie erhaben es auch war!‹
›Doch wenn Leiden zur Liebe führt, Memnoch, gewinnt sie eine Macht, die durch Unschuld nie erreichbar wäre.‹
›Warum sagst Du das? Ich glaube es nicht! Herr, ich glaube. Du verstehst einfach nicht. Herr, hör mir zu. Es gibt nur eine Möglichkeit, zu beweisen, daß ich im Recht bin. Nur eine!‹
›Wenn du auch nur einen Augenblick glaubst, du könntest dich meiner Berufung, meinem Opfergang in den Weg stellen, wenn du glaubst, du könntest die Flut der gewaltigen Kräfte stoppen, die auf dieses Ereignis hinwirken, dann bist du kein Engel, sondern ein Dämon!‹
›Das will ich gar nichts sagte ich. ›Bringe es zu Ende. Unterrichte sie; bringe sie gegen Dich auf, laß Dich gefangennehmen, anklagen und ans Kreuz schlagen, ja, all das. Doch tu es als Mensch.‹
›Genau das ist meine Absicht!‹
›Nein, denn Du wirst nie vergessen, daß Du Gott bist. Ich sage:
Vergiß, daß Du Gott bist! Begrabe Deine Göttlichkeit im Fleische, wo sie schon einmal verschüttet war. Begrabe sie, Herr, so daß Dir nur Dein Vertrauen, Dein Glaube an die Seligkeit bleibt, als hätte sie sich Dir in einer großartigen, unleugbaren Erscheinung offenbart.
Hier, in dieser Wüste, begrabe die feste Gewißheit, daß Du Gott bist, und dann leide, erleide Dein Schicksal, wie ein Mensch es erleiden müßte. Dann endlich wirst Du wissen, was Leiden in seinem tiefsten Kern bedeutet. Der Todeskampf wird bar jeder Glorie sein! Und Du wirst sehen, was Menschen sehen, wenn Fleisch zerfetzt wird, Blut fließt und es noch dazu das eigene ist. Es ist widerwärtig!‹
›Memnoch, auf Golgatha sterben jeden Tag Menschen. Daß der Sohn Gottes auf Golgatha ganz bewußt im Körper eines Menschen stirbt, das ist wichtige ›Oh, nein, nein‹, rief ich. »Das ist ein Unheil!‹
Plötzlich schien er so tieftraurig, daß ich dachte, er werde meinetwegen weinen.
Seine Lippen waren rissig und von der Hitze ausgetrocknet, seine Hände wirkten so dünn, daß die Venen durchschienen. Er war nicht einmal ein besonders außergewöhnliches Exemplar Mensch, nur ein ganz gewöhnlicher Mann und noch dazu durch lange Jahre mühevoller Arbeit verschlissen.
›Sieh Dich an‹, sagte ich, ›halb verhungert, durstig, leidend und erschöpft, irrst Du im Dunkel des Lebens, dem wahren, selbstgezeugten Übel der Natur umher, und Du träumst davon, diesen Körper in Glorie zu verlassen! Was für eine Lehre kann in einem solchen Leid sein? Und wem wirst Du die Schuld an diesem Mord geben?
Was wird aus all den Sterblichen, die sich Dir verweigern werden? Nein, Herr, bitte hör auf mich. Wenn Du Deiner Göttlichkeit nicht abschwören willst, unterlaß das Ganze. Ändere Deinen Plan.
Kein Sterben und vor allem: kein Mord! Laß Dich nicht an einem Holzstamm aufhängen wie der Gott der Wälder in der griechischen Sage. Komm mit mir nach Jerusalem, genieße Frauen und Wein, Gesang und Tanz, sieh die Geburt von Kindern und all die Freuden, die das menschliche Herz fühlen kann, denen es Ausdruck verleihen kann!
Herr, auch für den härtesten Mann gibt es Augenblicke - zum Beispiel, wenn er sein Kind im Arm hält, sein eigen Fleisch und Blut -,
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