Chronik der Vampire 05 - Memnoch der Teufel
lebendige Herr«, hauchte ich.
»Ich möchte, daß du nach Jerusalem gehst«, sagte Er. Er streckte die Hand aus und strich mir das Haar zurück, seine Hand war genau, wie Memnoch sie beschrieben hatte - trocken, rissig, sonnenverbrannt, wie auch seine Stirn es war.
Doch der Tonfall seiner Stimme war zugleich natürlich und erhaben, ein Timbre noch über das Engelhafte hinaus. Es war die Stimme, die im Himmel zu mir gesprochen hatte, sie war nur irdischen Lauten angepaßt.
Ich konnte nicht antworten. Ich war zu gar nichts imstande. Ich wußte, ich würde nichts tun, außer Er sagte es mir. Memnoch stand mit gekreuzten Armen da und beobachtete uns. Und ich kniete, schaute in die Augen des leibhaftigen Gottes, kniete völlig allein vor ihm.
»Geh nach Jerusalem«, wiederholte Er. »Es wird dich nicht viel Zeit kosten, kaum mehr als ein paar Augenblicke, doch geh hin, zusammen mit Memnoch, am Tag meines Sterbens, und sieh meinen Leidensweg - sieh mich mit Dornen gekrönt mein Kreuz tragen. Tu das für mich, ehe du deine Entscheidung triffst, ob du Memnoch dienen willst oder Gott, dem Herrn.«
Alles in mir sträubte sich, ich wußte, das brachte ich nicht fertig. Ich konnte es nicht ertragen! Ich konnte das nicht mit ansehen. Ich konnte nicht. Ich war wie gelähmt. Ungehorsam, Blasphemie, darum ging es gar nicht. Ich hielt einfach den Gedanken daran nicht aus! Ich starrte Ihn an, sah Sein sonnenverbranntes Gesicht, Seine milde blickenden, liebevollen Augen, sah den Sand auf Seinen Wangenknochen. Das dunkle Haar war vernachlässigt, windzerzaust, aus der Stirn zurückgestrichen.
»Nein! Ich kann das nicht! Ich kann es nicht ertragen!«
»O doch, du kannst das«, bestimmte Er. »Lestat, du mein unerschrockener Bote, der so vielen den Tod gebracht hat. Willst du wirklich in deine Welt zurückkehren, ohne diesem Ereignis auch nur einen Blick zu gönnen? Willst du wirklich nicht die Gelegenheit wahrnehmen, mich mit Domen gekrönt zu sehen? Wann hast du je eine Herausforderung ausgeschlagen? Bedenke, was ich dir hier anbiete. Nein, du würdest nicht davor zurückschrecken, selbst wenn Memnoch dir abraten würde.« Ich wußte. Er hatte recht. Und dennoch, es war nicht auszuhalten. Ich konnte nicht nach Jerusalem gehen und zusehen, wie der wahrhaftige Christus Sein Kreuz trug. Ich konnte es absolut nicht! Ich hatte nicht die Kraft, ich würde… ich schwieg. Der Aufruhr meiner Gedanken versetzte mich in totale Verwirrung und lahmte mich noch immer. »Wie kann ich das mit anschauen?« sagte ich und schloß die Augen. Wenig später öffnete ich sie wieder und sah zuerst Ihn und dann Memnoch an, der näher gekommen war und mich mit einem durchdringenden, kühlen Blick musterte, mit einem Ausdruck, der nicht versteinert, sondern wie unbeteiligt, ruhig wirkte.
»Memnoch«, wies Gott ihn an. »Führe ihn hin, zeig ihm den Weg, laß ihn einen Blick auf das Ereignis werfen. Sei du sein Führer, dann kannst du erneut an ihn appellieren und mit deinen Nachforschungen fortfahren.«
Gott sah mich an, lächelte. Trotz der ihm eigenen Herrlichkeit glich er einem zerbrechlichen Gefäß. Ein Mann mit Fältchen um die Augen von der Sonne, mit abgenutzten Zähnen, ein Mensch.
»Merke dir. Lestat«, sprach er zu mir. »Dies hier, das ist nur die Welt. Und die Welt kennst du. Scheol wartet. Du hast die irdische Welt gesehen und den Himmel, doch die Hölle kennst du noch nicht.«
Kapitel 18
W ir waren in Jerusalem, einer Stadt aus Stein und Lehm in stumpfbraunen und kränklichgelben Farbtönen. Es mußten wohl drei Jahre vergangen sein. Wir befanden uns eingezwängt in eine gewaltige Ansammlung von Menschen, die mit teilweise zerlumpten Gewändern bekleidet und verschleiert waren - ich roch menschlichen Schweiß, heißen, stickigen Atem, beißenden Gestank von menschlichen Ausscheidungen und Kameldung. Und obwohl uns niemand Beachtung schenkte, waren wir doch dem Druck der Körper ausgesetzt, ungewaschene Männer wurden gegen mich gedrängt oder schoben sich vorbei, und in den engen Gassen innerhalb der Stadtmauern spürte ich genau wie vorher in der Wüste den Sand wie Salzkörner in der Luft.
Die Leute standen dicht gedrängt in gewölbten Eingängen oder schauten aus Fenstern herab. Ruß mischte sich mit der staubigen Luft. Frauen mit Schleiern über dem Gesicht huschten, sich aneinander festhaltend, an uns vorbei. Von weiter vom hörte ich Schreien und Rufen. Dann merkte ich, daß die Massen uns so eng einschlössen, daß ich mich
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